Lieber Herr Merlitz,
die Frage liegt nahe, und natürlich ist daran auch gedacht worden. Die Beobachtungsumstände und/oder -ziele sprechen aber leider oft dagegen.
In den von mir beschriebenen Situationen könnte man im ersten Fall zumindest nicht durchgängig fotografieren, weil das Morgenlicht noch nicht ausreichen würde. Erste kleinere Gruppen fliegen evtl. schon in der Dämmerung weg, der große, äußerst beeindruckende Aufbruch von 10000 Gänsen erfolgt oft gleichzeitig ca. 30-45 Minuten nach Sonnenaufgang. In vielen Fällen werden die Vögel auf den Fotos nicht ausreichend zu trennen sein, weil auf engem Raum viele Tiere (es können bis zu 100 sein) hintereinander schwimmen, stehen oder fliegen. Hier geht es zudem meist um die Ermittlung von Gesamtzahlen zweier verschiedener vergesellschafteter Gänsearten (in dem gestrigen Fall waren unter den 12500 Gänsen knapp 1000 Blässgänse, deren weiße Stirn oder gefleckter Bauch oder Schnabel auf den Fotos zu sehen sein müssten, um die Art von der sonst ähnlichen Saatgans zu unterscheiden. Das gäben die Fotos wohl kaum her). Das Gute ist aber: Wir müssen nicht unbedingt genau wissen, ob es 12000 oder 13000 Vögel sind, aber schon, ob es 12000 oder 20000 sind. Die Präzision muss also längst nicht so groß sein wie zu physikalischen oder medizinischen Zwecken, ja, ein Physiker würde vielleicht sogar bestreiten, dass es sich überhaupt noch um ein "Zählen" handelt. Dafür muss aber international koordiniert etwa gleichzeitig gezählt werden, damit wenigstens ein grober Überblick über die gesamten monatlichen Rastbestände in den wichtigsten europäischen Rast- und Überwinterungsgebieten möglich wird. Da sind sicher hunderte, wenn nicht tausende von Personen (Amateure) im Einsatz, die alle die nötige Optik haben und vor allem vor Ort präsent sein müssen.
In der zweiten Situation könnte man die Gesamtzahl der rastenden Vögel allerdings sicher über Fotos so ermitteln, aber darauf kam es in diesem Fall den Beobachtern nicht an. Auch wenn es ornithologisch gar nicht wichtig ist, sollte hier der reinen Freude wegen eine Seltenheit, für manche die erste Beobachtung dieser Art überhaupt, eben in erster Linie beobachtet und nicht fotografiert werden. Da wird man eben mit dem Spektiv suchen müssen und sich dann über einen vergleichsweise engen Bildausschnitt nach meiner Meinung eher freuen. Die Entfernungen wären gestern jedoch immer noch so hoch gewesen, dass die Merkmale, die einen Mornellregenpfeifer von den Goldregenpfeifern unterscheiden (vor allem ein Überaugenstreif und weitere Merkmale am Kopf), auf dem Foto gar nicht oder nur unbefriedigend zu sehen sein könnten, je nach den Beobachtungsumständen eben. Wenn man Pech hat, sind Teile des Vogels auch von anderen Tieren, Bodenunebenheiten oder Vegetation verdeckt. Soweit ich aber weiß, ist am Wochenende ein Belegfoto angefertigt worden. Fotografisch ambitionierten Ansprüchen halten solche Fotos aber in der Regel nicht stand, oft sind sie mit Verlaub grottenschlecht, aber sie sollen ja auch nur die Beobachtung belegen.
Dennoch hat der Einsatz von Fotos eine Berechtigung und wird auch in Sonderfällen praktiziert, z.B. bei Ermittlungen von in Kolonien brütender Vögel (Reiherkolonien) oder von Vogelansammlungen im Wattenmeer (dann allerdings idealer Weise aus dem Flugzeug heraus, aber das ist dann natürlich eine Geldfrage).
Viele Grüße nach Fernost
MP