Da man weiß, daß der Grenzwinkel der Totalreflexion von der Brechzahl so abhängt, daß er mit wachsender Brechzahl abnimmt, vermutet man intuitiv, daß eine Vergütung diesen Grenzwinkel verschlechtern (= vergrößern) würde. Denn die Vergütung wirkt, indem Sie den Brechzahl-Sprung vom Glas (z.B. 1,57) auf Luft (1,00) in bei Einschichtvergütung in zwei oder bei Mehrschichtvergütung in entsprechend mehr Häppchen aufteilt. Die Brechung erfolgt dann in Raten, und weil der Reflexionsgrad der unerwünschten Spiegelung annähernd quadratisch von der Brechzahldifferenz abhängt, werden die entsprechenden Häppchen der Reflexionsverluste an den einzelnen Grenzschicht erheblich kleiner. Folglich bleibt die Summe aller Reflexionsverluste deutlich unter dem Reflexionsverlust an nur einer einzigen Grenzschicht (also an der unvergüteten Glasoberfläche). Um das anschaulicher zu machen, ein Beispiel: Wenn bei den obigen Werten (1,57 und 1,00) der Brechzahlunterschied 0,57 beträgt und durch eine Einschichtvergütung mit MgF2 mit der Brechzahl 1,38 diese Differenz von 0,57 in die beiden Häppchen 0,38 (zwischen Luft und MgF2) und 0,19 (zwischen MgF2 und BaK4) aufgeteilt wird, wäre
0,57² = 0,3249, aber
0,38² + 0,19² = 0,1444 + 0,0362 = 0,1805
In der korrekten Formel stehen dann noch im Nenner die Quadrate der Brechzahlsummen, aber weil man jetzt schon sieht, daß sich das Ergebnis fast halbiert hat, und weil ich es hier nicht zu kompliziert machen will, vernachlässigen wir den für das Endergebnis weniger relavanten Rest.
Man könnte also meinen, daß sich so auch die Totalreflexion verschlechtert (was bedeutete, daß sich der Grenzwinkel der Totalreflexion vergrößert).
Das ist jedoch nicht der Fall. Der einfallende und der totalreflektierte Strahl bilden nun zwar nicht mehr nur einen Knick, sondern stufenweise mehrere Knicke, die aber am Ende wieder zur selben Richtung wie beim einfachen Knick führen. Man kann sich auch dadurch von diesem Verhalten überzeugen, daß man ausgehend vom Ausfallswinkel 90°, bei dem die Grenze zur Totalreflexion liegt, an der letzten Oberfläche der obersten Vergütungsschicht mit Hilfe des Snelliusschen Brechungsgesetzes rückwärts rechnet, bis man durch alle Vergütungsschichten hindurch beim Glas angelangt ist. Dann stellt man fest, daß sich für den Sinus des so erhaltenen Grenzwinkels der Totalreflexion = sin epsilon ((Gr) ein Produkt von Brüchen ergibt, bei dem sich alles zwischen dem ersten Zähler und dem letzten Nenner wegkürzt und nur noch eben dieser erste Zähler (Brechzahl von Luft = 1) und der letzte Nenner (Brechzahl des Glases = 1,57) übrig bleiben, also genau wie beim unvergüteten Glas gilt
sin epsilon (Gr) = 1/n = 1:1,57 = ca. 0,637, woraus dann folgt
Grenzwinkel epsilon (Gr) = ca. arc sin 0,638 = ca. 39,5°
Man braucht also zum Erhalt des erforderlichen Grenzwinkels der Totalreflexion keine Kompromisse bei der Vergütung der betreffenden Prismenfläche einzugehen. Für den Grenzwinkel der Totalreflexion ist nur der Brechzahlunterschied zwischen dem Glas und der Luft (also der Gesamtunterschied) maßgebend und nicht, in welche kleinen Unterschiede er sich wegen der Vergütungsschichten aufteilt.
Nun werden Sie aber vielleicht einwenden, daß der so entstandene Mehrfach-Knick dazu führt, daß ein gewisser, wenn auch winziger Palallelversatz erfolgt, der sich schärfemindernd auswirken kann, weil ja alle ursprünglich einem Strahlenkegel mit scharfer Spitze angehörigen Lichtstrahlen nach der Totalreflexion weiterhin in einem Punkt (der Spitze des abgeknickten Kegels) treffen müssen. Das ist in der Tat ein Problem, aber erfreulicherweise von so winziger Größe (in der Größenordnung unterhalb der Lichtwellenlängen und damit weit unter der erforderlichen Auflösungsgrenze), daß wir es vernachlässigen können. Doch dieses Problem haben wir auch anderswo, nämlich 1. sowohl bei der ganz normalen Totalreflexion an einer einzigen Grenzfläche, weil nämlich der reflektierte Strahl auch schon dort nicht exakt von dem Punkt ausgeht, an dem der einfallende Strahl auftrifft, sondern eine Winzigkeit versetzt*, und 2. auch bei der Brechung an den Grenzflächen der vergüteten Linsen, insbesondere bei sehr stark gewölbten Linsen, an deren Oberfläche ein Parallelstrahlenbündel je nach Auftreffpunkt ganz verschiedene Einfallswinkel hat. Aber auch hier ist der Fehler so klein, daß er das Bildergebnis nicht sichtbar verschlechtert.
* Dieser Versatz sieht so aus, als erfolgte die Totalreflexion nicht an der tatsächlichen Grenzfläche, sondern eine Winzigkeit dahinter, und er hat seine Ursache darin, daß die elektromagnetischen Wellen tatsächlich ein bißchen über die Grenzfläche „hinausschießen” wie ein Auto, das beim heftigen Tritt aufs Bremspedal auch nicht schlagartig stehenbleibt, sondern erst nach einem gewissen Bremsweg.
Jetzt läßt sich Ihre Frage, wie hoch man die von Ihnen erwarteten Verluste einschätzen kann, leicht beantworten: Es gibt keine Verluste, weder eine verminderte Transmission noch einen ungünstigeren Grenzwinkel der Totalreflexion.
Walter E. Schön
PS.:
Ich habe oben der Einfachheit halber nur mit zwei Nachkommastellen der Brechzahl gerechnet und auch bei den Ergebnissen immer wieder gerundet. Deshalb habe ich am Ende einen Grenzwinkel vom 39,5° erhalten, der fehlerbehaftet ist und daher nicht mit dem Wert übereinstimmt, den Sie z.B. in Physikbüchern für BaK4 finden. Bei der obigen Rechnung kam es mir nicht auf Genauigkeit an, sondern darauf, daß möglichst jeder Leser folgen kann.