Sehr geehrter Herr Schön,
Sie kommen zu der Auffassung, die Disparation spiele keine entscheidende Rolle für unser Problem, weil Sie Ihre Wirkung in einem einzigen Fall ausschließen können, nämlich dann, wenn sie durch Einwärtsschielen kompensiert werden kann. Das dies tatsächlich so ist, habe ich nun erkannt und zuvor übergangen, da ich viel allgemeiner gedacht habe als Sie. Denn Ihr besonderer Fall tritt nur bei exakt einer speziellen Verkipprichtung der Knickbrückenachse auf, in allen anderen Fällen der Verkippung aber, die ja die überwiegende Mehrheit bilden, kann keine Kompensation des Fehlwinkels erfolgen. Wie ich im folgenden zeigen will, führen diese anderen Verkippungen sehr wohl zu signifikanten Bildverschiebungen, wenn die Augenweite für Beobachtung im Nahbereich verringert wird.
Da ich, genau wie Sie, wenig Zeit habe, kann ich leider nicht auf alle Ihre Punkte einzeln eingehen, sondern komme lieber gleich zum Kern der Sache, nämlich der „Windschiefe“ der Knickbrückenachse. Diese ist, nur zur Wiederholung für Mitleser, charakterisiert einerseits durch den Grad der Schiefe, also den Winkelbetrag und andererseits der Richtung dieses Winkels. Beide Werte, Richtung und Betrag, bestimmen, ab wann Doppelbilder auftreten können. Für den Betrag haben wir uns auf 1 Grad geeinigt, bleiben wir dabei. In Sachen Richtung aber haben wir bisher nur einen einzigen Spezialfall der Windschiefe betrachtet, (leider) genau den, bei dem die Disparation deshalb noch keine Rolle spielen kann, weil sie in diesem Fall durch das Ausgleichsschielen aufgehoben wird (und in Nachkommastellen sogar vermindert, aufgrund der einrollenden (augenabstandsmindernden) Augenbewegung beim Schielen, worauf Sie mich korrekterweise aufmerksam gemacht haben). Wir müssen aber alle anderen möglichen Verkipprichtungen ebenso berücksichtigen. Wir unterscheiden dazu den horizontalen und den vertikalen Fall, den wir zuerst betrachten.
Vertikales Verkippen der Knickbrückenachse
Wir orientieren unser Glas in normaler horizontaler Beobachtungsposition und betrachten zunächst die Lageänderungen der Knickbrückenachse in der gedachten vertikalen Mittelebene, die das Glas mittig senkrecht durchschneidet. Für diesen Fall gibt es zwei Möglichkeiten, die Achse kann objektivseitig nach unten verkippt sein oder okularseitig. Wir haben in der Analyse bisher nur den ersten Fall betrachtet.
Fall 1
Dabei ist die Knickbrückenachse am hinteren, objektivseitigen Ende exakt in Richtung der Vertikalen nach unten abgesenkt, die Objektivtuben stehen unverändert parallel zueinander. Vermindert man bei diesem Glas die Augenweite, beginnen die Objektivtuben zunehmend zu divergieren und zwar nur(!) in horizontaler Richtung, die resultierenden nach innen verschobenen Bilder können durch Einwärtsschielen zu Deckung gebracht werden, das Einwärtsschielen wirkt der Disparation entgegen. Aus diesem Grunde werden die Bilder von exakt in horizontaler Richtung divergierenden Tuben bis zu recht großen Winkelbeträgen durch Einwärtsschielen fusioniert, begrenzender Faktor für die Höhe des kompensierbaren Objektiv-Divergenzwinkels sind die fokussierte Entfernung und die anatomische Schielwinkelgrenze von 30°. In diesem Fall stimme ich mit Ihrer Analyse zu.
Fall 2
Nun betrachten wir den bisher vernachlässigten, aber nicht minder wahrscheinlichen genau entgegengesetzten Spezialfall, bei dem die Knickbrückenachse nicht objektivseitig, sondern am okularseitigen Ende abgesenkt ist. Dann führt eine Verminderung der Augenweite zu zunehmend konvergierenden Tuben, deren Bilder nicht mehr durch Einwärtsschielen fusioniert werden können, (sondern nur durch Auswärtsschielen, was aber anatomisch nicht möglich ist). Nun wüssten wir gern, ab welcher horizontalen Objektivverschiebung nach innen unser für Doppelbilder als kritisch angenommener Wert von disparationsbedingt 1,5° augenseitig errreicht wird, und bei welcher Augenweiteneinstellung diese konvergente Objektivtubenverkippung erreicht wäre. Wir kehren kurz zurück zu unserem Rechenbeispiel und rechnen nun rückwärts:
1,5° augenseitig entsprechen (geteilt durch 8x Vergrößerung) objektivseitig 0,188°. Aus diesem Wert errechnen wir nötige Winkeldifferenz der Knickbrücke nach
arc sin 0,188 zu dann 10,8°. Wir ziehen diesen Wert vom Wert für 70mm Augenabstand ab, der bei 122,09° lag und erhalten 111,29° und daraus mit 2 sin (111,29° / 2) x 40mm als Augenweite 66mm.
Das bedeutet: Ein Glas 8 facher Vergrößerung mit einer um 1° in der oben beschriebenen zweiten Art vertikal verschobenen Knickbrückenachse, dessen Tuben bei 70mm Augenweite noch parallel stehen, erreicht schon bei Verringerung des Augenabstandes auf 66mm die durch zunehmend konvergierende Objektivtuben kritische Grenze für Doppelbilder! Hat Person A 70mm (oder auch nur 69mm) Augenweite und verengt im Nahbereich die Augenweite um 3mm auf dann 67 (bzw. 66mm) ergibt sich kein Problem, die Doppelbildgrenze wird nie überschritten. Hat Person B 66mm (oder auch 67mm) Augenabstand, hat sie in Unendlichstellung noch kein Problem, verringert sie die Augenweite aber auf Werte unter 66mm (64, 63 oder noch tiefer, ich verenge eher 4mm) bewirkt die Disparation, die nun nicht durch Auswärtsschielen kompensiert werden kann, Doppelbilder. Hätte Person A problemlose 69mm Augenweite, könnte Person B bei 67mm (oder sogar schon 68mm), im Nahbereich den kritischen Wert überschreiten. Die Rechnung zeigt, dass unter unseren Vorgaben schon 1mm Differenz in der Augenweite der beteiligten Personen den kritischen Unterschied machen könnte!
Horizontales Verkippen der Knickbrückenachse
Nun zu der von Ihnen bestrittenen Möglichkeit einer horizontalen Verkippung. Eine ausschließlich rein horizontale Verkippung ist aus den von Ihnen genannten Gründen wohl recht unwahrscheinlich. Aber weshalb sollte eine gewisse horizontale Komponente kategorisch auszuschließen sein? Dazu reichte schon ein schräger Schlag, die Achse wäre dann statt aus einem seitlichen (nur durch die Tuben hindurch und deshalb kaum möglichen ) 90° Winkel vielleicht im Winkel von bis zu 45° getroffen. Wie sehr eine horizontale Komponente bei einem Stoß vielleicht doch wirksam wäre, dürfte ganz wesentlich von der Konstruktion des Glases und der Art der Lagerung abhängen. Dazu nur ein Gedanke: Die ideal gedachte Knickbrückenachsegerade muß keineswegs auf kürzestem Weg mechanisch mit dem Objektubus verbunden sein, sondern dieser Querträger kann auch versetzt zur Achse liegen, die dann eine Art „Luftachse“ wäre. (Schaute man von oben auf die punkförmige Knickbrückenachse, und wäre diese von einer konzentrischen Lagerhülse umgeben, könnte der Querträger auch ober oder unterhalb der idealen Achse an der Hülse ansetzen, so daß die idealisierte Mittelebene der Querträger die Achse nicht durchstieße, sondern die Achse ober oder unterhalb der Querträgermittelebene zu liegen käme. Damit wäre die horizontale Verschieblichkeit der Achse erleichtert, weil sie nicht durch das gesamte Material des Querträgers auf voller Länge erfolgen müsste. Deshalb glaube ich nicht wie Sie , dass eine horizontale Komponente komplett und kategorisch ausgeschlossen werden kann..
Wir können uns die rechnerische Betrachtung der horizontalen Knickbrückenachsenverschiebung ersparen, weil sie ja zu genau den gleichen Werten führt, die dann allerdings vertikalen Bildversatz bedeuten. Da dieser wiederum so gut wie nicht ausgeglichen werden kann, (außer über die Disparationstoleranz von ca. 1,5°) kämen wir bei einem schrägen Schlag auf Werte, die um den Faktor des sin der Winkelschräge kleiner wären. Schon bei einer Schräge ab ca. 26° würden dann bei Augenweitenänderung um 10mm augenseitige vertikale Bildverschiebungen jenseits der kritischen 1,5° Grenze auftreten, bei einer Schräge von 45° schon bei Augenweitenänderung um ca. 6mm.
Wir erhalten also folgendes Ergebnis:
Die windschiefe Lageänderung einer Knickbrückenachse kann bei Veränderung der Augenweite des Glases zu mehr oder minder deutlichen Problemen beim Bildversatz führen, ausgenommen den Spezialfall einer exakt vertikal objektivseitig abgesenkten Knickbrückenachse. In diesem Ausnahmefall kompensiert das Einwärtschielen den resultierenden rein horizontalen Bildversatz bis zum Erreichen der Schielgrenze, in allen anderen Fällen, die statistisch weit überwiegen dürften, nicht.
Deshalb müssen Sie Ihre generelle Behauptung, eine windschiefe Achse könne nicht Ursache der Symptome sein zurückziehen. Sie kann es sehr wohl, nämlich in den meisten Fällen, abgesehen von einem einzigen Spezialfall.
Epilog
Die von Ihnen als Ursache für Doppelbilder vermutete Deformation des Augapfels ist so gering, dass sie für die Entstehung von Doppelbildern so gut wie keine Rolle spielt. Die Konsistenz des Auges ähnelt aufgrund der straffen Lederhaut und des Glaskörpers eher der eines gut aufgepumpten Fußballs. Der minimale Druck, der Doppelbilder hervorruft, deformiert die Kugel, wenn überhaupt, dann nur unbedeutend. Die Verschiebung aber, die der Druck bewirt, ist nicht nur in jedem Spiegel sichtbar, sie kann ohne weiteres so leicht ausgeführt werden dass das entstehende Doppelbild scharf bleibt und höchstens vernachlässigbare Aberrationen zeigt. Die kleinen Tests sollten ein Gefühl vermitteln dafür, wie leicht Doppelbilder durch geringe Achsverschiebungen auftreten können. (Wegen der Relativität der Bewegung sind Augapfelverschiebung und Bildverschiebung äquivalent).
Die Sache mit dem Quentchen war eine Art vorauseilender Gehorsam. Ich kannte zwar das quent nicht (freue mich aber das nun zu wissen), doch das e im Wort war mir wohlbekannt. Da aber Worte wie Stängel, aufwändig, Gräuel und dergleich schon verunstaltet worden sind, ging ich davon aus dass auch hier tun zu müssen, denn mein Wörterbuch ist zu alt.
In der Sache mit dem Horopter haben Sie natürlich recht, ich hatte das nur eilig hingeworfen, damit Interessierte vielleicht aufmerksam und neugierig werden, so wie ich auch, denn ich hatte vor unserer Diskussion davon (und dem anderen „Zeugs hier“ noch nichts gehört.
Wer Spass daran hat, das Panum kennenzulernen und seine Querdisparation zu bestimmen, kann durch ständiges Fixieren einer Bleistiftspitze, die er langsam vor und zurückbewegt die Zone hinter der Spitze bestimmen, ab der eine dahinterliegende LED (z.B. am Monitor, auf deren Wahrnehmung er sich dabei trotz fixierter Spitze konzentrieren muß,) als Doppelbild zu sehen begonnen wird. Ich habe mir diesen Test selbst überlegt: Ist meine Monitor-LED 50cm entfernt, fange ich an die LED doppelt zu sehen, wenn die fixierte Bleisstiftspitze davor bei 47,5cm steht. Das entspricht einer Querdisparation von etwa 0,2° oder 12“ (67mm Augenweite). Die meisten Menschen liegen, wie ich nachgesehen habe bei 20“, je kleiner der Wert desto besseres räumliches Sehen , aber leider auch desto höhere Empfindlichkeit für Dejustage. Trotz individuell verschiedener Werte ist unsere Annahme von 1,5° oder 90“ also recht großzügig, Ortsfrequenz hin oder her. Vielleicht können ja einige Forenteilnehmer Ihren Wert auch ermittlen, dann können wir vergleichen.
Die Zone zwischen Spitze und LED und natürlich auch eine Zone hinter der LED, (wenn die LED nahe genug der Gerätekante liegt, so dass man den Bleistift dahinterbewegen kann) ist eben das Panum, der Bereich, in dem das Hirn die bewusste Wahrnehmung von Doppelbildern unterdrückt und aus den kleinen Bilddifferenzen von rechts und links auf wundersame Weise irgendwie unserern räumlichen Bildeindruck generiert. Dieser Bereich und damit auch die Fähigkeit zu räumlichem Sehen ist korrespondierend der Querdisparation individuell verschieden groß, je kleiner desto besser für die räumliche Wahrnehmung. Wer weiss, vielleicht ist Herr Nickel ja ein Mensch mit geringerer Querdisparation, wie ich auch, und muß das daraus resultierende bessere räumliche Sehen mit erhöhter Empfindlichkeit gegenüber Dejustierung bezahlen..
Zum Schluß möchte ich noch einmal sagen, dass ich ungeachtet der interessanten theoretischen Diskussion, die sich hier ergeben hat, Herrn Nickel nicht ohne Weiteres in Schutz nehmen würde. Er hat weder beschrieben, was am 2.Glas, das ihm Herr Jülich zum Vergleich gab anscheinend „nicht stimmte“ (tolle Fehlerbeschreibung!) sondern nur geäußert er habe dazu nicht gesagt, dass es den gleichen Fehler habe, er bleibt also merkwürdig nebulös. Auch zum einfachen Kollimationstest hat er sich nicht geäußert oder dazu, ob andere Bekannte mit seinem Glas auch Probleme haben, die sonst mit ihren Gläsern keine kennen. Er hat ferner nicht angegeben, ob dann, wenn er die Knickbrückenachse für Nahbereichsbeobachtung nicht verstellt sein Problem verschwunden ist, was der Fall sein müsste, wenn die Windschiefen-Hypothese zutreffen soll. Irgendwie scheint der Geschichte der nicht selten anzutreffende Eindruck von leichter Ignoranz gepaart mit kräftigem Selbstbewusstsein anzuhaften, gegen den man oft kaum ankommen kann.
PS.: Was unsere andere Debatte zum Thema Auflösung von Brillenträgern angeht, würde ich Sie eigentlich gern davon abhalten, Ihre kostbare Zeit an einen Interpretationsversuch zu verschwenden, bei dem Sie neben dem Energieerhaltungssatz auch die gemeine einfache Linsengleichung umgehen müssten, ich halte beides für aussichtslos. Aber schau’n wir mal.
1-mal bearbeitet. Zuletzt am 26.03.08 07:04.