Lassen Sie sich nicht beirren, denn es scheint, als sei Ihr Fernglas für Ihre momentanen Bedürfnisse völlig ausreichend. Wenn Sie jetzt gezielt nach Fehlern oder Mängeln suchen, werden Sie die zumindest teilweise auch finden, und das wird unweigerlich Ihre Freude am neu erworbenen Fernglas trüben.
Investieren Sie Ihre Energie und Ihren Wissensdurst jetzt besser in sinnvolle Anwendungen. Setzen Sie Ihr Fernglas möglichst of ein, denken Sie über Möglichkeiten nach, es so effektiv wie möglich zu nutzen. Auf den Nachthimmel haben Sie Ihr Fernglas schon gerichtet. Sobald wir wieder wolkenfreie Nächte bekommen, werden Sie da gewiß viele faszinierende Entdeckungen machen (besorgen Sie sich eine drehbare Sternkarte und ein Astro-Einsteigerbuch wie z.B. den „Karkoschka“, um gezielt und schneller die für die Fernglasbeobachtung geeignetsten Objekte zu finden und einiges über die astronomischen Hintergründe zu erfahren).
Nehmen Sie bei Spaziergängen und Wanderungen das Fernglas so oft wie möglich mit und tragen Sie es dabei nicht nur spazieren, sondern schauen Sie auch immer wieder durch. Sie werden bald merken, wie oft es sich lohnt das Fernglas vor die Augen zu halten, selbst wenn es anscheinend (fürs bloße Auge) nichts Interessantes zu sehen gibt.
Nutzen Sie auch immer wieder die Naheinstellung. Die Bezeichnung „Fernglas“ ist keine Vorschrift, damit nur in die Ferne zu schauen. Richten Sie den Blick durchs Fernglas auf und in Büsche und Bäume, auf Gräser und Blumen (auch auf welke), und Sie werden entdecken, daß es selbst im oberflächlich als unscheinbar wirkenden Nahbereich viel Schönes zu sehen gibt, wenn man es dank Fernglasvergrößerung „nah“ und deutlich in ungewohnter Perspektive betrachtet.
Planen Sie, wenn es Ihre Zeit erlaubt, gelegentlich spezielle Beobachtungstouren, z.B. in ein Naturschutzgebiet, zu einer Vogelwarte, an einen See mit Vogelschutzgebiet, zu einem als Aussichtspunkt bekannten Turm, Hügel oder Berg.
Mit der Zeit werden Sie z.B. bei Gegenlichtbeobachtung über glitzernder Wasserfläche feststellen, daß manchmal doch störende Reflexe oder ein diffuser, die klare Sicht behinderner Schleier entstehen, daß Sie manchmal gern ein etwas größeres Sehfeld hätten, daß Sie die Details im Randbereich weniger scharf erkennen als im Zentrum des Sehfeldes usw. Dann wird vielleicht der Wunsch aufkommen, sich ein besseres Fernglas anzuschaffen, und der höhere Preis dafür aufgrund der bis dahin gewonnenen Erfahrung für Sie nachvollziehbar und gerechtfertigt erscheinen. Aber warum sollten Sie jetzt schon gezielt Fehler suchen und ein Fernglas madig machen, das für Ihre Fernglas-Lernphase durchaus gut genug ist und Ihnen viele schönen Beobachtungserlebnisse ermöglichen könnte? So wie eine positive Lebenseinstellung vieles leichter und erfreulicher macht, sollten Sie jetzt durch Konzentration Ihrer Aufmerksamkeit auf die guten Seiten Ihres neuen Spielzeugs und Beobachtungsfreude-Vergrößerers erst mal das Positive suchen und genießen. In vielleicht zwei oder drei Jahren werden Sie entweder festgestellt haben, daß Ihre Fernglas für alle Ihre Erwartungen und Ansprüche ausgereicht hat und Ihnen auch für die nächste Zukunft gut genug ist, oder Ihr Blick hat sich so geschärft und Ihre Ansprüche sind so gewachsen, daß Sie mehr wollen und dann auch ziemlich genau wissen, in welchen Punkten das dann angestrebte neue Fernglas besser sein muß: ob es leichter und kompakter sein muß, weil Ihr altes Ihnen auf langen Touren zu hinderlich war, ob es eine höhere Vergrößerung bieten soll, weil Ihre bevorzugten Beobachtungsobjekte häufig sehr weit entfernt waren, ob es eine geringere Vergrößerung haben sollte, weil Sie das jetzige Glas oft nicht ruhig genug halten konnten, ob es eine höhere Öffnung aufweisen soll, weil Sie ihre interessantesten Beobachtungen in der Dämmerung machten und zu früh abbrechen mußten, weil es zu dunkel wurde, oder weil der Nachthimmel über Ihrem Wohnort noch so dunkel (frei von „Lichtverschmutzung“) ist, daß Sie mit einem lichtstärkeren Glas noch tiefer in den Weltraum eindringen könnten usw.
Fazit: Nicht die Schwachstellen suchen, sondern die neu gewonnenen Möglichkeiten intensiv nutzen.
Walter E. Schön