Meine Frau hat mich vorher für verrückt erklärt, und ich war mir selbst nicht so sicher, ob ich völlig normal bin, 4000 Euro für ein Fernglas auszugeben. Nun, einige Wochen später, sind wir beide schlauer.
Meiner Frau ist es einfach zu schwer und zu groß (sie benutzt ein 10x32). Es wiegt 1700 Gramm, das kommt einem beim Hochheben nicht so vor, aber auf Dauer merkt man es. Allerdings mein 10x56 Design Selection ist auch nicht spürbar leichter.
Erst mal die Nachteile:
1. Es hat keine Objektivschutzkappen! Der Koffer ist praktisch zum mitnehmen im Auto, aber im Gelände hängt es bei mir um den Hals.
2. Es hat ein Sehfeld von 52 m auf 1000 m, das ist zwar logisch bei 20facher Vergrößerung, aber man sucht doch öfter nach dem Punkt, den man beobachten wollte. Manchmal klappt es auch sofort, vielleicht eine Übungssache? Hat man den Schwarzstorch in der Luft gefunden, läßt er sich aber bestens verfolgen, das geht! Was nicht geht sind sich jagende Buntspechte, weil die viel näher sind – man also nachfokussieren muß, und sie Haken schlagen, dann sind sie weg.
3. Schärfentiefe? Was ist das? Eine Ebene ist scharf, alles davor und dahinter nicht! Ab 200 Meter wird es besser. Das Herausheben dieser kleinen scharfen Zone macht andererseits natürlich viel Spaß, weil diese subjektiv noch schärfer ist.
4. Es ist nur bedingt brillenträgertauglich. Brille ab und Fernglas auf, macht wegen Punkt 2. bei Tierbeobachtungen keinen Sinn. Bei mir geht es mit meiner kleinen Brille gerade noch so, mit meiner größeren Brille macht es keinen Spaß. Die Okulare haben umklappbare Gummiaugenmuscheln keine Drehhülsen.
5. Für sehr kleine Hände ist es wohl nur schwer zu bedienen, besonders der Stabi-Knopf. Ich habe Handschuhgröße 8 ½ und damit keine Probleme. Man hält da Glas zweckmäßigerweise anders als andere: die linke Hand (Stabi-Knopf) packt weiter objektivwärts als gewohnt die Rechte (Fokussierung) greift normal.
6. Es ist nicht lichtstark. Mit einer AP von 3mm ist es ein Tagglas.
7. Gegenlicht. Mein 10x56 ist besser, das 10x32FL erst recht. Was fehlt sind ausziehbare oder aufsteckbare Gegenlichtblenden.
8. Vom Nahpunkt (16 Meter) bis Unendlich ist man beim Fokussierrad ziemlich am drehen.
Das klingt jetzt alles nach: Finger weg, es ist ein Fehlkauf – dieser Schluß wäre völlig falsch! Warum? Nun das sage ich unter dem Punkt Vorteile:
1. Das 20x60S vergrößert doppelt so stark, wie ein 10faches. Was dieser triviale Satz soll? Nun auf dem Papier ist das ja klar, aber was bedeutet das in der Praxis:
60 Meter entfernte Kiefer: bloßes Auge: da sind kleine Vögel, 10x: da sind Grünfinken und wursteln in den Zapfen rum, 20x: toll wie die jeden Samen einzeln rausholen, putzen und fressen!
35 Meter entfernte Walnuß: bloßes Auge: ein Buntspecht wuselt rum, 10x: es ist das schlanke Weibchen, 20x: man sieht die einzelnen Bestandteile der Federn, also wie die Fahne aus den einzelnen Federästen zusammengesetzt sind!
2. Es ist ein Fernglas, kein Spektiv: Schon wieder was triviales? Nun zwei Beispiele vom Wochenende:
Kurzer Spaziergang in einer renaturierten Flußaue, um zu schauen was für Enten und Taucher da sind, ob der Eisvogel schon eingezogen ist. Vor mir, ca. 20 m entfernt in einer Weide am Wegesrand plötzlich ein kleiner unscheinbarer Piepmatz. Eher unwillig (Wird wohl ein Fitis sein) das Fernglas hochgehoben und einen positiven Schock gekriegt: ein weißsterniges Blaukehlchen! Formatfüllend! Farbenprächtig! 30 Sekunden lang saß es da und hat auch noch gesungen: ich habe es nicht nur gehört, sondern auch deutlich gesehen an der Kehle! Mit dem 10x hätte ich auch ein Blaukehlchen gesehen, aber es wäre mir nicht auf der Nase gesessen! Mit einem Spektiv hätte ich gar nichts gesehen (ich nähme bestimmt kein Spektiv auf einen 45 minütigen Spaziergang mit, und aufstellen dauerte auch ein bißchen länger als 30 Sekunden)
Am Tag darauf gleiche Gegend (ich wollte das Blaukehlchen noch mal sehen, es zeigte sich aber nicht) ein lässiger Blick in die Ferne: was kreist denn da neben dem Mäusebussard in der Thermik? Noch ein Schock: ein Schwarzstorch! Groß, deutlich!
Allein für diese beiden Beobachtungen hat sich das 20x60S bereits gelohnt!
3. Die Bildstabilisierung funktioniert! Auch bei Schwenks, auch beim Verfolgen von Flugzeugen oder Vögeln. Sie funktioniert selbstverständlich, man bemerkt es nicht. Erst beim Loslassen der Taste wird man der Technik gewahr. Einfach nur ein klares, zitterfreies Bild.
4. Das Fokussierrad geht butterweich und leicht (hohe Übersetzung, wahrscheinlich wegen der geringen Schärfentiefe?), die Verstellung des Pupillenabstandes geht weich aber zäh, so daß man sie nicht unabsichtlich verstellt.
5. Schärfe und Kontrast sind so gut, daß ich bisher in der Praxis nichts(!) daran mäkeln konnte.
6. Es trägt sich nicht unbequemer um den Hals/das Genick, als mein 10 x 56 Design Selection. Da ich früher 2-3 SLR-Gehäuse und 5-6 Objektive dabei hatte, finde ich es sehr bequem. (Der Swarowski-Tragegurt (Bino-Suspender) ist für Ferngläser dieses Kalibers übrigens ungeeignet, ich habe es bei meinem Händler ausprobiert. Beide Gläser hingen mir fast bis in den Schritt)
Ich benutze es täglich im Garten. Ich benutze es regelmäßig in der Natur. Sehr empfehlenswert! Nicht als einziges Glas, aber als eines von zweien. Von Zweitglas möchte ich nicht sprechen, da es im Moment mein Erstglas ist.
Fazit: ich bin normal. Mindestens so normal wie Leute, die mit über 20.000 Euro im Stau stehen, oder eine Armbanduhr für über 1.000 Euro am Handgelenk haben.
Carpe Diem!
OhWeh