Gut, daß Sie diesen Aspekt erwähnten, Herr Becker, und noch besser, daß Sie „VIELLEICHT“ in Versalien schrieben. Die vorherrschende Meinung dazu stützt sich nämlich auf nur ein physikalisches Argument und unterschlägt ein anderes, physiologisches.
Es ist zunächst richtig, daß eine höhere Masse dem Zittern mehr Widerstand entgegensetzt und so quasi dämpfend wirkt (in Wirklichkeit hat die höhere „träge Masse“ keine erhöhte Dämpfung, sondern ein Herabsetzung der Zitterfrequenz zur Folge, man zittert also langsamer, so daß das Auge dem sich bewegenden Bild evtl. besser folgen und somit Details besser erkennen kann).
Aber andererseits strengt das Halten eines schwereren Fernglases mehr an, der „Muskeltonus“ (Spannungszustand) ist höher, der Muskel ermüdet schneller und beginnt darum bald, heftiger zu zittern.
Beide Effekte zusammen ergeben etwa folgendes Resultat: Die ersten 20 Sekunden hält man ein 1,5 kg schweres 7x50-Porroglas ein bißchen ruhiger als ein nur halb so schweres Dachkantfernglas, dann schlägt es um, und je länger man beobachtet, um so mehr gerät das schwere Glas ins Hintertreffen. Die genannten 20 Sekunden sind ein von mir ermittelter Erfahrungswert, der sicher nicht für jeden verbindlich ist. Mag sein, daß mancher (und vor allem manche) schon nach 10 oder 15 Sekunden mit dem schweren Glas mehr zu zittern beginnt, aber ebenso mag es sein, daß ein junger, noch sportlich geübter Kraftprotz erst nach 30 oder 40 Sekunden mit dem schweren Glas mehr zittert. Wie auch immer es im Einzelfall sein sollte, das schwere Glas hat bezüglich der Bildruhe nur dann einen Vorteil, wenn man halbwegs ausgeruht ist und nur einen kurzen Moment lang beobachtet. Wenn man dagegen längere Zeit die Gegend absucht, einen Vorgang über viele Minuten verfolgt oder mit nur kurzen Unterbrechungen immer wieder länger als ca. 20 Sekunden beobachtet, ist das leichtere Dachkantglas eindeutig im Vorteil.
Bei anderen Fernglasgewichten verschieben sich die Werte etwas. So ermüdet man zwar mit einem 8x20-Glas noch sehr viel weniger, aber man hält es aufgrund des kleinen Gewichts und auch wegen der kleinen Größe* weniger ruhig als z.B. ein 500-g-Glas. Nach meiner Erfahrung liegt das Optimum für ein ruhiges Bild bei längerer Beobachtung etwa im Bereich von 500 bis 700 g, bei nicht ganz so lang ausgedehnter Beobachtungsdauer bis max. 900 g. Alles, was darüber liegt, wird bei längerer Beobachtung ohne Abstützung (Stativ, Armauflage o.ä.) anstrengend. Der Übergang ist natürlich fließend, und so bitte ich, die genannten Zahlen nicht als verbindliche und exakte Werte, sondern nur als grobe Anhaltswerte anzusehen.
Ich empfehle darüber hinaus allen Seglern und sonstigen Bootfahrern, daran zu denken, daß sie ihr Fernglas um eine vielfach längere Zeit um den Hals hängen haben als vors Auge halten. Also sollte die weit höhere Bequemlichkeit eines leichteren Glases in den viel längeren Phasen des Nichtgebrauchs ebenfalls bedacht werden. Wer also glaubt, entgegen meinen obigen Ausführungen ein (fast) doppelt so schweres 7x50-Porroglas während der relativ kurzen Beobachtungsintervallen ruhiger zu halten (auch nach 30 Sekunden?), der muß dafür die sehr langer Pausen dazwischen um so mehr unter der Last am Nacken leiden.
Da im vorliegenden Falle dieser Diskussion von der Anwendung auf einem Boot die Rede ist und sich dort keine Möglichkeit zum Abstützen bietet, das Fernglas also stets freihändig gehalten werden muß, spricht also bezüglich der Bildruhe alles für das nur 755 g leichte 7x42 FL.
* Auch die Größe des Fernglases hat einen Einfluß auf die Bildruhe, denn ein Glas, das groß genug ist, daß man es mit beiden Händen richtig umfassen kann (übrigens ein Argument zugunsten der Swaovski-EL-Gläser), hält man ruhiger als eines, das man fast nur mit den Fingerspitzen hält (8x20). Es hilft zudem, das Fernglas mit der rechten Hand nahe dem Okular und mit der linken nahe dem Objektiv zu halten (wer mit einem Finger der linken Hand fokussiert, macht es umgekehrt). Denn so ergibt sich ein größerer Hebelarm zwischen den Haltepunkten links und rechts. Ein 8x20 ist jedoch zu klein, um so gehalten zu werden. Hinzu kommt, daß ein längeres Fernglas bei gleichem Gesamtgewicht ein höheres Trägheitsmoment um die horizontale und vertikale Drehachse hat (das sind die beiden Achsen, um welche Drehungen zu Bildzittern führen). Ein Porroglas ist kürzer, aber beiter als ein Dachkantglas. Bei gleichem Gewicht hätte es um die vertikale Achse etwa dasselbe Trägheitsmoment wie das Dachkantglas (die größere Breite kompensiert die geringere Länge), aber um die horizontale Achse hat es ein geringeres Trägheitsmoment.
Walter E. Schön
