Was Sie sagen, hört sich ganz einfach an, aber nur deshalb, weil Sie übersehen haben, daß man zum Messen einer Strecke BEIDE Endpunkte der Strecke kennen muß. Sie sehen bei einem Okular, mit dem Sie ein scharfes Bild der optisch annähernd unendlich weit entfernten Sonne erzeugen, aber nur dieses eine Ende der Strecke (den Brennfleck). Wo ist das andere? Es steckt irgendwo drin im Okular, aber wo genau? Man nennt den Punkt oder die Ebene, von dem bzw. von der aus man die Brennweite mißt, den Hauptpunkt bzw. die Hauptebene. Davon gibt es sogar zwei, je nachdem, auf welcher Seite des Objektivs (in unserem Falle: des Okulars) man die Brennweite messen will. Die beiden Hauptpunkte bzw. -ebenen sind nicht identisch, sondern liegen meistens einige Millimeter weit auseinander, und je nach optischen Aufbau kann der objektseitige Hauptpunkt vor oder auch hinter dem bildseitigen liegen. Und die Hauptpunkte liegen in der Regel auch nicht symmetrisch zur Mitte, nicht einmal dann, wenn das „Objektiv“ nur aus einer einzigen Sammellinse besteht. Wenn es nämlich keine symmetrische Bikonvexlinse ist, sondern unsymmetrisch bikonvex oder plankonvex, dann liegen auch die Hauptpunkte unsymmetrisch, und wenn die Linse gar konkavkonvex ist, dann liegt ein Hauptpunkt oder können sogar beide Hauptpunkte außerhalb der Linse liegen. Ein komplex aufgebautes Objektiv oder Okular läßt also nicht ohne weiteres erkennen, wo die Stelle liegt, ab der Sie den Abstand zum Brennfleck messen müssen, um die Brennweite zu erhalten.
Die von mir angegebene Methode ist nicht ganz exakt, nicht nur deshalb, weil mit einfachsten Mitteln (Bandmaß, Lineal) und darum etwas ungenau gemessen wird, sondern auch wegen eben dieser Problematik des Findens der tatsächlichen Lage der Hauptpunkte bzw. Hauptebenen. Aber weil ich nicht den Abstand zum Brennfleck (bzw. in meinem Falle zum Bild des Fensters) messe, der sehr stark fehlerbehaftet wäre, wenn ich nicht weiß, wo die bildseitige Hauptebene ist, sondern weil ich den viel, viel größeren Abstand zum Fenster messe, wird die Sache dennoch ausreichend genau. Denn beim Abstand des Fensters, der in meinem Rechenbeispiel 4,91 m war, spielen einige Millimeter oder gar 1 bis 2 cm keine entscheidende Rolle mehr und führen nur zu einer Ungenauigkeit in der Größenordnung von ca. 1%. Wenn Sie jedoch den Abstand zum Brennfleck bei einer Brennweite von 19,1 mm nur mit einer Ungenauigkeit von 1 bis 2 cm gemessen hätten, wäre das Ergebnis völlig unbrauchbar, denn Sie kämen dann auf irgendeine Brennweite zwischen 0 und ca. 39 mm.
Die einzige EINFACHE Bestimmungsmöglichkeit ist die über den Abbildungsmaßstab (in meinem Beispiel das Verhältnis von Bildbreite b zu Fensterbreite B) und die Entfernung.
Wenn man die Möglichkeit zu sehr genauer Messung der Objekt- und Bildgröße sowie des Abstandes hat, hat es Sinn, auch eine etwas genauere Berechnungsformel zu benutzen: Man sollte dann statt des Abstandes der Objektivmitte zur Fensterscheibe den Abstand von der Papierebene zur Fensterscheibe = OO', sprich: (Buchstabe) „O“ (Buchstabe) „O“ „Strich“ (OO sind keine Nullen) messen und die von mir vereinfacht angegebene Berechung durch die nur ein bißchen kompliziertere Formel
Brennweite = (OO'-HH')/(2+m+1/m)
ersetzen, in der
OO' = Abstand Fensterscheibe zu Papier
HH' = Hauptpunktabstand (kann näherungsweise weggelassen werden, da sehr klein relativ zu OO')
m = Abbildungsmaßstab
bedeuten. Da der Abbildungsmaßstab m das Verhältnis von Bild- zu Objektgröße ist, können wir m durch b/B und 1/m durch B/b ersetzen und bekommen
Brennweite = (OO'-HH')/(2+b/B+B/b)
Um noch ein bißchen zu vereinfachen, ohne daß die Genauigkeit mehr als praktisch erforderlich leidet, kann man bei ausreichend großem Abstand zum Fenster (z.B. mehr als 3 m) nicht nur HH', sondern auch b/B weglassen, weil beide sehr klein sind, und erhält dann eine genauere Näherungsformel, die aber immer noch recht einfach zu handhaben ist:
Brennweite = ca. (OO')/(2+B/b)
In meinem Beispiel im vorigen Beitrag warn der Fensterabstand zum Papier OO' = 496 cm = 4960 mm. Aus der Bildbreite b = 8,5 mm und der Fensterbreite B = 218 cm = 2180 mm errechnete sich für B/b = 2180/8,5 = 256,47. Nun können wir damit als Lohn für die größere Berechnungsmühe einen etwas genaueren Wert erhalten, nämlich
Brennweite [mm] = ca. 4960/(2+256,47) = 4960/258,47 = ca. 19,34 mm
Natürlich gibt es Methoden, die Lage der Hauptebenen bzw. -punkte zu bestimmen, aber das geht über die einem Nichtfachmann ohne Meßinstrumente verfügbaren Möglichkeiten weit hinaus und hat deshalb hier nichts zu suchen.
Walter E. Schön
Nachtrag:
Da die Leser dieses Forums mit wenigen Ausnahmen keine Physiker oder Optiker sind, möchte ich noch folgende Erläuterung hinzufügen:
OO' ist eine Abkürzung für die Strecke von der Objektebene O zur Bildebene O' des Objektes. Der Buchstabe O steht also für „Objekt“, und das hochgesetzte Strichlein bedeutet in der Optik immer soviel wie „Bild von ...“, also O' = Bild von O.
HH' ist die Abkürzung für die Strecke von der Hauptebene H zur zweiten Hauptebene H' (die, wie Sie jetzt richtig vermuten, als Bild von H interpretiert werden kann, was sich allerdings nicht anschaulich, sondern nur aus den mathematischen Formeln erschließt). Diese Strecke ist bei normalen Fotoobjektiven oder Fernglasokularen selten größer als wenige Millimeter und daher relativ zum Abstand OO', der in unserem Beispiel 4960 mm betrug, vernachlässigbar klein (Fehler in der Größenordnung von höchstens 1 Promille).