Ihr geringer Astigmatismus ist zwar im Alltag nicht nennenswert und auch gering genug, um Ihnen beim Vergleich ohne und mit Brille am Fernglas nicht aufzufallen, doch war die Prüfung am Spektiv strenger:
Das Fernglas haben Sie freihändig gehalten. Folglich konnten Sie die maximal mögliche optische Auflösung wegen des Bildzitterns (selbst wenn es nur gering war) nicht erreichen. Die Reduzierung der Bildschärfe durch diesen Effekt war größer als der Unterschied zwischen den wahrgenommenen Bildschärfen ohne und mit Astigmatismuskorrektur.
Bei der Beobachtung mit Spektiv stand dieses auf einem Stativ, so daß der qualitätsmindernde Effekt des Bildzittern nicht auftreten konnte. Sie konnten daher tatsächlich bis zur Auflösungsgrenze (des Systems aus Spektiv und Ihrem beobachtenden Auge) gelangen. Außerdem haben Sie hier nicht irgendetwas in der Landschaft beobachtet, sondern eine Testtafel, die eine viel präzisere Beurteilung der Bildschärfe anhand der fein abgestuften, unterschiedlich großen Sehzeichen (Buchstaben, Ziffern, Symbole, Landolt-Ringe, Gitterlinien o.ä.) ermöglicht. So konnten Sie Schärfe-Unterschiede wahrnehmen, die geringer waren als die zwischen Ihrer Augen-Sehschärfe ohne und mit Astigmatismuskorrektur.
Übrigens wundert mich die Angabe 0,3 Ihres Augenarztes, da normalerweise in 0,25-dpt-Stufen geprüft wird und auch die Brillengläser in solchen Abstufungen geliefert werden. Aber möglicherweise hat Ihr Augenarzt eine andere, vielleicht gar in 0,1-dpt-Stufen anzeigende Prüfeinrichtung.
Es kann zusätzlich auch noch folgender Effekt aufgetreten sein: Bei der beidäugigen Beobachtung kommt das Gehirn durch Überlagerung der Bilder beider Augen zu einer etwas besseren Auflösung als für jedes der beiden Augen allein (sofern sich beide Augen nicht zu sehr in der Sehschärfe unterscheiden). Das führt dann auch zu einem geringeren negativen Einfluß Ihres Astigmatismus, zumal dieser gemäß Ihren obigen Angaben wohl nur das linke Auge betrifft. Das rechte Auge erkennt dann auch noch die feinsten Strukturen, die das rechte wegen des Astigmatismus schon etwas verwischt sieht. Beim Spektiv haben Sie nur mit einem Auge durchgeschaut, so daß der Überlagerungseffekt nicht stattfindet, und wenn das (wie ich vermute) Ihr linkes Auge war, dann merken Sie natürlich die Auflösungsverschlechterung aufgrund des Astigmatismus in vollem Ausmaß beim Durchschauen ohne Brille, während Sie mit Brille keine solche Verschlechterung haben.
Ihre von Ihnen abfällig als „Scherbe vor dem Auge“ bezeichnete Brille tut eben doch mehr, als nur die Brennweite zu korrigieren. Sie korrigiert auch Ihren Astigmatismus, und den dabei auftretenden Gewinn können Sie mit dem dank Stativ nicht zitternden Spektiv an der Testtafel wahrnehmen, beim zitternden Fernglas aber nicht.
Walter E. Schön