Ich nehme an, daß Sie mit „Plastik“ den räumlichen Bildeindruck meinen, also eine mehr oder weniger deutlich erkennbare Tiefenstaffelung des beobachteten Objektes.
Diese Eigenschaft ist bei konstanter Vergrößerung (d.h. beim Vergleich mit gleich stark vergrößernden Ferngläsern) allein abhängig und direkt proportional zum Abstand zwischen den Objektivachsen (= Stereobasis). Also ist der räumliche Bildeindruck bei Porroferngläsern (Ausnahme: Porrotyp II) mit annähernd doppelt so großem Objektivachsenabstand annähernd doppelt so deutlich wie der von Dachkantferngläsern.
Wie Sie sehen, braucht man also gar keine Daten anzugeben, denn man sieht das den Ferngläsern ja schon äußerlich an. Der Unterschied zwischen den einzelnen Dachkantferngläsern ist bis auf wenige Ausnahmen (z.B. 8x56) zu gering, um ihn als Unterschied im räumlichen Bildeindruck wiederzufinden. Und gleiches gilt beim Vergleich von Porroferngläsern untereinander. Man kann also mit fast immer zutreffender Gültigkeit sagen: Der räumliche Bildeindruck eines Porrofernglases ist etwa doppelt so groß wie der von Dachkantferngläsern.
Jetzt möchte ich allerdings auf eine zweite Konsequenz unterschiedlicher Objektivachsenabstände hinweisen: Bei vergrößertem Abstand im Vergleich zum Abstand der Augenachsen, also zur sog. „Augenweite“, ergibt sich ein Effekt, der als „Liliputismus“ bezeichnet wird. Der Name sagt schon, was man sich darunter vorzustellen hat, nämlich eine scheinbare Miniaturisierung des betrachteten Gegenstandes. Sie haben den Eindruck, daß Sie ein verkleinertes Modell der Landschaft betrachten. Man kann das geometrisch genau erklären, was aber hier zu weit führte, auch weil dazu Zeichnungen gehörten. Die Ursache ist, um allen, die das selbst weiterverfolgen wollen, einen Hinweis zu geben, daß die Augenachsen beim Fixieren auf einen nicht im Unendlichen liegenden Gegenstandspunkt erheblich stärker konvergieren müssen als bei einer kleineren Stereobasis. Da die als Vergenz bezeichnete Winkelstellung (in diesem Falle die Konvergenz) der Augenachsen im Gehirn mitbenutzt wird, um eine Vorstellung von der Lage des betrachteten Gegenstandes im Raum zu bekommen, nimmt man den Gegenstand als „näher“ wahr. Da jedoch der Winkel, unter dem man eine bestimmte Gegenstandsgröße sieht, davon unberührt bleibt, muß man sich logischerweise den betrachteten Gegenstand sowohl näher als auch dazu proportional kleiner vorstellen.
Um die praktische Konsequenz bei Ferngläsern zu sehen, sollten Sie mal je ein Porro- und Dachkantfernglas gleicher Vergrößerung nehmen und vergleichen: Sie sehen die Tiefenstaffelung durchs Porrofernglas etwa im Entfernungsbereich zwischen 4 m und 100 m bis max. 200 m (darüber ist der Konvergenzwinkel für eine Tiefenwahrnehmung schon zu klein) deutlicher, aber zugleich haben Sie den aus dem Liliputismus resultierenden Eindruck, daß das Porroglas etwas weniger stark vergrößert als das Dachkantglas.
Walter E. Schön