So verführerisch der Gedanke sein mag, ich wäre vorsichtig, aus der Anzahl verbauter Linsen direkt auf den konstruktiven Aufwand oder die höhere Bildqualität eines Fernglases zu schließen. Die Linsenzahl muß nicht zwangsläufig damit korrelieren. Ein viellinsiges Okular, dessen Linsen zu wenigen optischen Elementen kombiniert sein können, kann im Einzelfall weniger Aufwand bedeuten und billiger zu fertigen sein, oder sogar schlechtere optische Qualität zeigen, als ein Okular mit wenigen aber teuren Linsen. Etwa wenn die vielen Linsen schlechter zentriert oder mit größeren Toleranzen gefertigt sind, wenn einfachere billigere Glassorten verbaut werden, wenn weniger oder einfachere Vergütungsschichten aufgebracht sind, wenn diese Schichten nicht auf jede Linsenfläche einzeln abgestimmt sind oder ungenau aufgebracht werden, oder wenn die optische Rechnung höhere Ansprüche an die Positioniergenauigkeit stellt, als sie beim Zusammenbau eingehalten werden können usw. usw. Denken Sie umgekehrt an hochbrechende Gläser, schwieriger zu bearbeitende Glassorten oder asphärische Flächen, was auch schon bei wenigen Elementen zu hohem baulichen Aufwand führen kann. Es gibt einfach zu viele Parameter, die zu kontrollieren teuer und sehr schwierig sein kann, was hohen Aufwand bedeutet, der sich aber nicht unmittelbar an der Summe sichtbarer Glaselemente erkennen lässt.
Bei Top-Herstellern und Premiumgläsern sind Nachlässigkeiten bei Fertigung und Material sicher nicht entscheidend, man kann hier von höchster Qualität der Einzelteile ausgehen, und könnte deshalb versucht sein, eine höhere Anzahl an Linsen mit besseren Korrekturmöglichkeiten bei der optischen Rechnung zu verknüpfen und schon das als qualitätssteigernd zu betrachten. Aber ob in der Topklasse ein, zwei oder drei Linsen pro Rohr mehr oder weniger verbaut sind, dürfte auch hier beim Gesamtergebnis nicht die Hauptrolle spielen. Denn z. B. in Sachen Transmission und Kontrast bedeutet mehr Glas nicht unbedingt immer ein besseres Bild. Nehmen Sie als Beispiel die Ultravid Taschengläser einerseits, und die Nikon HG oder vielleicht auch Swarovski Pocket andererseits. Die Objektive dürften alle zwei- oder, wenn man die Fokussierlinse mitrechnet, dreilinsig aufgebaut sein. Aber Leica verbaut nur dreilinsige Okulare, Swarovski glaube ich fünf- oder sechslinsige, und Nikon sogar siebenlinsige. Rein in Sachen Bildqualtität würde ich dennoch die Ultravids favorisieren, weil bei Nikon trotz hohem Okularaufwand Transmission, Kontrast und Farbwiedergabe wegen der Silberverspiegelung der Prismen sichtbar minimal schwächer sind. Die nur dreilinsigen Leica-Okulare machen es möglich, weil das Zusammenspiel ihrer aufwendigen asphärischen Linsengeometrie mit der dielektrischen Verspiegelung der Prismen insgesamt das etwas bessere Ergebnis liefert. Erst wenn Nikon die Verspiegelung ebenfalls umstellt, könnte sich das möglicherweise ändern.
Komplexe, teure und raffinierte Vergütungs- und Verspiegelungsschichten, die genau auf eine Glassorte und ihre Geometrie abgestimmt sind, sind ein ganz wesentlicher Faktor, sowohl für die Bildqualität als auch für den konstruktiven Aufwand. Ihre Bedeutung überwiegt m. E. bei weitem so etwas wie eine Differenz um einige wenige Linsen. In irgendeiner Fotozeitschrift erschien vor kurzem ein kleiner Artikel, der eine Ahnung davon vermitttelte, wie weit diese Kunst bei Zeiss fortgeschrittten ist. Um randnahe Reflexe einer Linse zu vermeiden, wie sie z.B. Herrn Müllers an seinem Ultravidokular stören, wendet Zeiss eine besondere und aufwendige Art der Vergütung nur im Randbereich von Linsen an. Damit lassen sich auch bei kritischen Krümmungsradien Reflexe unterdrücken, die zuvor unvermeidbar waren. Umgekehrt werden zur Optimierung manchmal auch neue Glasmaterialien eingesetzt, deren andere physikalische Eigenschaften wiederum neu abgestimmte Vergütungsverfahren erfordern. Auch bei solchen Optimierungen erhöht sich nicht die Linsenzahl, sie kann sich sogar vermindern, dennoch kann der konstruktive und bauliche Aufwand höher liegen.
Noch etwas zum Thema Baukastensystem. Wie es die Hersteller intern damit halten kann man nicht wissen, aber warum sollte es ein Qualitätsbeweis sein, wenn jedes Modell immer individuell komplett verschiedene Objektive und Okulare besitzt, wenn das gar nicht nötig ist? Bei der Nikon Porro SE-Serie ist z.B. bekannt, das alle drei Modelle, 8x32, 10x42 und 12x50 das selbe Okular haben, dessen Brennweite um die 20mm liegen dürfte, die Unterschiede liegen bei diesen Gläsern, die zur Weltspitze der Porros zählen, allein in den Objektiven. (Nur am Rande: deshalb wäre für ein hochwertiges Großfernglas mit Zentralfokussierung vielleicht Nikon am besten aufgestellt, ein paar gut abgeblendete farbarme Objektive - vielleicht in der Gegend 1:5.5 / f 390mm - an den Spritzwasser geschützten SE-Grundkörper geschraubt, sollte 20-fache Vergrößerung liefern.) Umgekehrt könnte ich wetten, dass ein und dasselbe gleichgeöffnete Objektiv bei so manchem Hersteller für verschiedene Vergrößerungsstufen genutzt wird, es spricht ja auch nichts dagegen. Rationelle Fertigung kann nicht nur günstigere Endpreise bedeuten, sondern u. U. auch geringere Toleranzen und bessere Serienkonstanz, also höhere Präzision.
Man kann an der Anzahl von Linsen auch nicht den Teil am konstruktiven Aufwand erkennen, der in der Entwicklung steckt, im intelligenten Weglassen überflüssiger Dinge, in der klugen Reduktion auf das Notwendige oder dem Vermeiden von Fehlern, in der ausgewogenen Gesamtkonzeption. Aufwand ist eine sehr relative Sache, weshalb er sich nicht in einer Materialschlacht zeigen muß, sondern auch in einer Fülle verborgener Details und ihrer gekonnten Gesamtabstimmung liegen kann, er hat diese immaterielle unsichtbare Komponente, die im Können der Entwicklungsteams liegt. Weniger kann mehr und besser sein. Trotzdem schaut man natürliche gerne die eindrucksvollen Schnittbilder eines Victory, Ultravid oder Swarovision an, denn sicher jedem gefällt das Gefühl, ein ultimatives optisches Kunstwerk vor Augen zu haben, in dem heutzutage das Wissen und Können vieler Generationen von klugen Köpfen kulminiert.