Hallo Bernhard,
der Kulisseneffekt ist auch proportional zur Stereobasis, bei einem (normalen) Porro also staerker als beim Dachkantglas, jedoch schwaecher beim umgekehrten (reverse) Porro.
Die Aussage, die Du im Forum ausgegraben hast, stimmt so nicht, und dazu ein ganz simples Beispiel: Bei einer Aufnahme mit einem Teleobjektiv werden die Gegenstaende ja ebenfalls "flachgedrueckt", was eine ganz normale Konsequenz des Tiefenmassstabs ist. Man kann Gegenstaende zwar durch die Optik vergroessern, dabei jedoch den Standpunkt des Beobachters und die resultierende Perspektive nicht aendern. Trotzdem erhaelt man bei einer Tele-Aufnahme noch keinen Kulisseneffekt. Gleiches gilt durch ein Teleskop. Erst die stereoskopische Wahrnehmung laesst den Eindruck einer dreidimensionalen Kulisse aufkommen, die aus scheinbar flachgedrueckten Motiven besteht.
Der entscheidende Faktor ist die totale Plastik:
P = m * (Objektivabstand)/(Okularabstand)
wo m die Vergroesserung ist. Wer schon einmal durch einen Raumbild-Entfernungsmesser geschaut hat, der zur besseren Tiefenaufloesung einen sehr weiten Objektivabstand haben kann (durchaus mehrere Meter!) , dem wird der extreme Puppenstubeneffekt aufgefallen sein. Selbst ohne Vergroesserung (m=1) kann der Effekt also existieren, solange P > 1, die totale Plastik also diejenige des unbewaffneten Auges ueberschreitet.
Der Kulisseneffekt entsteht in der Wahrnehmung aufgrund eines Widerspruchs: Erstens vergroessert die Plastik die Tiefenaufloesung. Bezogen auf die Wahrnehmung bedeutet das: Die Verschiebung der beiden Abbilder auf der linken und rechten Netzhaut beider Augen (genannt: Querdisparitaet) wird verstaerkt, was unsere Wahrnehmung als Tiefeneindruck umsetzt. Nun sind wir es jedoch gewohnt, nur bei nahen Gegenstaenden eine gute Tiefenaufloesung zu haben, bei fernen Gegenstaenden weit weniger, weil ja die Winkelverschiebungen (linkes/rechtes Auge) mit der Entfernung abnehmen. Aufgrund der erhoehten Tiefenaufloesung sagt uns die Wahrnehmung also: Die Gegenstaende muessen recht nah sein. Sie rueckt also die Motive scheinbar naeher, so als wuerden sie eine Modellandschaft bilden, die auf einem Tisch aufgebaut ist.
In Kombination mit der Vergroesserung kommt nun der Widerspruch: Wirklich nahe Gegenstaende haetten ja auch eine ganz bestimmte Perspektive, aus der sie in ihrer natuerlichen Form erscheinen. Die nur scheinbar nahen Gegenstaende haben jedoch durch den Tiefenmassstab eine falsche Perspektive, weil sie ja nicht wirklich nah sind, sondern fern und daher infolge des Tiefenmassstabs gestaucht sind.
Also: Die erhoehte Plastik erzeugt den Puppenstubeneffekt, und die Vergroesserung eine unnatuerliche Stauchung. Beides zusammen ergibt den Kulisseneffekt. Ob man in der Literatur zwischen "Puppenstubeneffekt" (Modellandschaft ohne Stauchung) und "Kulisseneffekt" (mit Stauchung, bei m > 1) unterscheidet, ist mir nicht bekannt.
Bekannt ist: Fernglaeser mit grosser Plastik, also Porros, erwecken den Eindruck, als wuerden sie weniger stark vergroessern, weil man ja glaubt, die Gegenstaende seien ohnehin klein und nah. Bei Dachkanten ist der Effekt weniger ausgepraegt. Auf die wirkliche Vergroesserung (und Aufloesung) hat das natuerlich keinen Einfluss.
Die Sache ist also durchaus komplizierter, als in dem frueheren Beitrag dargestellt, und daher erscheint die Erklaerung in meinem Buch auch komplizierter (dafuer ist sie richtig ;-).
Viele Gruesse,
Holger