Bitte verstehen Sie meinen Beitrag nicht als Rüge; ich will nur verhindern, daß eine technisch nicht korrekte Aussage stehenbleibt und sich vielleicht im Gedächtnis mancher Leser eine falsche Vorstellung festsetzt.
Das Canon-Fernglas 12x36 IS II hat (wie auch die anderen bildstabilisierenden Canon-Ferngläser) keine Knickbrücke, sondern starr miteinander verbundene Objektivfassungen. Die Anpassung des Okularachsenabstandes auf die Augenweite des Beobachters erfolgt also nicht durch unterschiedlich starkes „Abknicken” (daher die Bezeichnung „Knickbrücke“) der beiden Fernglashälften um eine zu den optischen Achsen parallele mechanische Mittelachse, sondern durch Verdrehen der Okulare zusammen mit den ihnen vorgeschalteten Porroprismen 2. Art um die jeweilige Objektivachse. Das bedarf einer kleiner Erläuterung.
Diese Ferngläser sind mit den heute nur selten in Ferngläsern verwendeten Porroprismen 2. Art ausgestattet, die im Prinzip ähnlich wie die üblichen Porroprismen 1. Art durch vierfache Totalreflexion mit Umlenkung um jeweils 90° das Bild um 180° drehen, es also seitenrichtig aufrichten. Wie auch bei den Porroprismen 1. Art gibt es dabei einen Parallelversatz der achsenparallelen Strahlen, nur daß dieser Parallelversatz geringer ist. Deshalb müssen bei diesen Ferngläsern die Objektive nicht so weit wie sonst bei Porroferngläsern (1. Art) auseinander liegen. Der Parallelversatz kann so ausgerichtet werden, daß die Okularachsen ein wenig, z.B. um 15 mm, höher liegen als die Objektivachsen (in diesem Fall könnten die Objektive sogar genauso weit auseinander liegen wie die Okulare). Wenn man nun die gemeinsame Fassung des Porroprismas und des zugehörigen Okulars um die Objektivachse drehbar macht, läßt sich so das Okular in einem kleinen Bogen etwas nach links oder nach rechts schwenken. Koppelt man die beiden Schwenkeinrichtungen des linken und des rechten Okulars (z.B. über Zahnräder, Zahnstangen, Hebel oder Riemen) so aneinander, daß die Schwenkbewegungen gegenläufig erfolgen, so kann man auf diese Weise den Abstand der Okularachsen vergrößern oder verkleinern und somit an die eigene Augenweite anpassen. Im Prinzip funktioniert diese Augenweitenanpassung also ähnlich wie mit Rhombusprismen, die oft bei sehr großen militärischen Großferngläsern eingesetzt werden.
Prinzipiell wäre so eine Bauweise auch mit Porroprismen 1. Art möglich, aber weil diese einen viel größeren Parallelversatz haben, ist das nicht zweckmäßig und mit der üblichen Knickbrücke einfacher und bei Bedarf auch leichter wasserdicht realisierbar. Mit Dachkantprismen ist dagegen ein Strahlengang ohne Parallelversatz möglich, den man z.B. bei Kompakt- oder anderen kleineren Ferngläsern anstrebt. Braucht man für große Ferngläser wegen deren großer Objektivdurchmesser größere Objektivachsenabstände, muß man die Dachkantprismen „gewaltsam“ etwas umgestalten, um einen Parallelversatz zu erzwingen. Der ist aber normalerweise immer noch zu gering, um die oben beschriebene Anpassung an die Augenweite durch drehbare Prismen-Okular-Fassungen zu ermöglichen.
Natürlich hätte man bei den Canon-IS-Gläsern auch eine normale Knickbrücke verwenden können. Das aber hätte es enorm erschwert, die Variangle-Prismen in beiden Rohren zu synchronisieren. Denn in diesem Falle hätten sich beim Abknicken der beiden Rohre die Kippachsen der Variangle-Prismen relativ zueinander verdreht, während sie so in der starren Kontruktion links und rechts identisch liegen (nämlich senkrecht und waagerecht). Gleiche Lage der Kippachsen ist eine wichtige Voraussetzung dafür, daß in beiden dieselben Steuersignale genutzt werden können, um das Bildzittern zu kompensieren.
Leider fehlt mir wwegen meiner Vor-Photokina-Arbeitsüberlastung die Zeit, geeignete Zeichnungen anzufertigen. So wird meine obige Erklärung vielelicht für manchen technisch weniger Versierten zu abstrakt bleiben. Ich hoffe aber, daß dennoch mancher Leser sich nun besser vorstellen kann, wie das bei den Canon-IS-Ferngläsern funktioniert und warum Canon diese Konstruktion gewählt hat.
Zum Schluß noch je eine Anmerkung zur Wasserdichtheit und zur Nikon/Fujinon-Alternative:
Wenn man beim Canon 12x36 IS II von vorn auf die Objektivlinsen und deren Fassung schaut, während man an der Fokussierwalze dreht, kann man gut sehen, wie sich die Objektive (und nicht etwa innenliegende Linsen) zum Fokussieren verschieben. Da wird dann schnell klar, daß in dem Zwischenraum zwischen Objektivfassung und Fernglasgehäuse wegen der Volumenänderung Luft eingesaugt oder ausgeblasen wird, das Fernglas also gar nicht wasserdicht sein kann! Bei den alten großen IS-Gläsern 15x50 und 18x50 war deshalb vor den Objektiven noch eine feststehende und abgedichtete Planglasscheibe eingebaut, so daß diese etwas großspurig mit dem Prädikat „All Weather" angepriesenen Gläser wenigstens spritzwasserdicht waren und einen nicht allzu heftigen Regen schadlos überstehen konnten. Erst das neue 10x42 L IS WP mit ebenfalls vorgeschalteter Planglasscheibe ist richtig wasserdicht.
Die Nikon- und Fujinon-Stabigläser sind mit denen von Canon schwer vergleichbar, da sie sich stark unterscheiden: Sie haben einen wesentlich größeren Kompensationsbereich, wie er nötig ist, wenn man von schwankendem Boden (Boot, Schiff, fahrendes Auto, vibrierender Hubschrauben usw.) aus beobachtet. Um das zu erreichen, ist eine viel voluminösere und schwerere Konstruktion nötig. So wiegt z.B. das 12x36 Stabi von Nikon bzw. Fujinon fast genau doppelt soviel wie das Canon 12x36 IS. Für mich sind diese beiden darum absolut keine Alternative. Wäre ich Wildhüter, der vom Hubschrauber aus Wild beobachtet, oder Zöllner, der mit dem Hubschrauber Grenzkontrollen macht, oder Segler, der trotz rüttelnden Schiffs ein ruhiges Bild braucht, wäre es genau umgekehrt und das Canon-IS-Glas unbrauchbar. So hat jede der beiden Konstruktionen ihren eigenen Anwendungsbereich und darin eine klare Überlegenheit vor dem anderen System. Welches System das bessere ist, kann also nicht generell gesagt werden, sondern ist immer davon abhängig, wie und wozu das Fernglas eingesetzt werden soll.
Walter E. Schön