Zunächst möchte ich vorausschicken, das alle diejenigen, die sich weniger für naturwissenschaftliche Phänomene interessieren, ihre Lebenszeit nicht damit verschwenden sollten, den Beitrag weiterzulesen und sich damit unglücklich zu machen. Ein gesundes Desinteresse an Dingen, die einem nicht wichtig sind, ist nicht nur legitim, sondern für ein zufriedenes Leben unabdingbar.
So einfach und alltäglich sich das Beschlagen einer Linse ausnehmen mag, so komplex sind die sich dahinter verbergenden Phänomene, wenn man die Dinge genauer betrachtet. Ohne das ich auf diesem Gebiet Experte wäre, möchte ich doch darauf hinweisen, das Kondensation und Kristallisation, also Phasenübergänge der Materie, keineswegs nur von wenigen Randbedingungen abhängen und sich die Geschehnisse nochmals komplizieren, wenn sie an (festen) Oberflächen stattfinden. Grenzflächenphänomene gehören zu den komplexesten naturwissenschaftlichen Problemen überhaupt. "Die Oberfläche hat der Teufel erfunden", dieser Satz des genialen Physikers Wolfgang Pauli bringt humorvoll die Verzweiflung zum Ausdruck, mir der sich noch heute viele Wissenschaftler beim Verständnis solcher Prozesse abmühen. Zahllose ungelöste Rätsel verbergen sich hier, denn die molekularen Interaktionen sind so vielfältig und wundervoll wie das Leben selbst. Und sie sind nicht zuletzt ein wesentlicher Teil dessen, was das Leben aus biochemischer Perspektive ausmacht. Genug der Abschweifung.
Meines Wissens beruht die beschlagmindernde Wirkung von Beschichtungen auf einer Umstrukturierung des opaken Wasserfilms. Eine homogen beschlagene Oberfläche organisiert das Wasser quasi in einer maximal dichten "hügeligen" Ansammlung von Mikrotröpfchen, sozusagen kleinen Linsen, an denen sich das Licht dann streut. Der gerichtete Lichtdurchtritt wird durch die vielfältigen Reflektionsvorgänge an der neuen rauhen Wasser/Luft-Grenzfläche gestört, es resultiert eine geschlossene Undurchsichtigkeit (Opazität) des Films. Die Haftung des Wasserfilms beruht auf der Interaktion der polaren Hydroxylgruppen der Glasoberfläche (Glas ist ein Silikatgitter) mit den polaren Hydroxylgruppen der dipolaren Wassermoleküle. Wenn sich Partikel auf der Glasoberfläche befinden, auf der das Wasser kondensieren soll, stören diese je nach ihrer Oberflächenbeschaffenheit die Filmbildung. Die Wasserteilchen favorisieren aus energetischen Gründen polare Interaktionen, d.h. liegt ein unpolarer Brocken im Weg, ziehen sie sich von ihm zurück und interagieren lieber mit sich selber. Das Rückzugsgebiet rund um den unpolaren Störenfried ist damit wasserfrei und erlaubt den Lichtdurchtritt. Der Wasserfilm wird zum Netz, das Wasser lokal aufkonzentriert, und die resultierende lokale Erhöhung der Schichtdicke bewirkt eine Verschmelzung der Linsentröpfchen zu einer glatten Oberfläche, so daß auch diese Bereiche nun lichtdurchlässig sind.
Eine beschlagmindernde Beschichtung, die ich kenne, zeigt unter der Lupe zahlreiche kleine Partikel. Spucke (biochemisch betrachtet ein komplexes und wundervolles kolloidales Gebräu) enthält u.a. genügend wirksame Partikel, die auf einer Oberfläche verrieben die Wasserfilmbildung stören und dabei die optischen Eigenschaften erstaunlich wenig beeinträchtigen, besonders, solange die Sache feucht bleibt. Bei meiner Schwimmbrille nutze ich den Effekt auch, bei meinem kunstvoll vergüteten Fernglas kommt das nicht in Frage.
Neben der Umorganisation des rauhen Mikrolinsenwasserfilms in eine Netzstruktur gibt es auch Substanzen, die die Wasserverteilung in einen flächendeckenden glatten Film bewirken, der dann wie eine durchlässige plane Schicht auf der Linse liegt und bei Überladung abfliesst.
In jedem Fall sind beschlagmindernde Beschichtungen aber kein Hokuspokus, sondern haben in der Technik vielfältige Bedeutung, denken sie nur an den Vereisungsschutz von Flugzeugen im Winter.
Noch etwas fällt mir ein. Man kann die Zusammenhänge auch nutzen, wenn man etwas über die Vorgeschichte einer optischen Oberfläche erfahren möchte. Wenn man sie vorsichtig anhaucht und dann beobachtet, wie sich der gebildete Wasserfilm benimmt, lassen sich alte "eingebrannte" Fingerabdrücke und ähnliche irreversible Mißhandlungen für eine kurze Zeit wieder sichtbar machen. Eine Glasoberfläche vergißt manche Dinge nie wieder, auch wenn sie es sich unter normalen Bedingungen niemals anmerken lassen würde.
3-mal bearbeitet. Zuletzt am 16.10.06 01:59.