Die Berechnung nach der von Ihnen angegebenen Formel
SSW = 2 arc tan (V · tan TSW/2)
mit SSW = scheinbarer Sehwinkel, V = Vergrößerung und TSW = tatsächlicher Sehwinkel
ist keine neue, sondern eine ganz alte Formel, die sich dann ganz logisch ergibt, wenn man eine Vergrößerung ohne Verzeichnung zugrundelegt, also eine Vergrößerung, bei der die geometrischen Formen unverändert bleiben (ein Kreis bleibt ein Kreis, ein Quadrat bleibt ein Quadrat, alle Winkel bleiben dieselben).
Nach dieser Formel hat man grundsätzlich bis vor etwa 70 Jahren gerechnet. Dann erst begann man darüber zu streiten, ob es nicht besser wäre, eine gewisse kissenförmige Verzeichnung ganz bewußt herbeizuführen, weil sie beim Schwenken des Fernglases während der Beobachtung hilfreich ist, um einen Effekt zu reduzieren oder gar ganz unauffällig zu machen, der als Globuseffekt bezeichnet wird. Andererseits hat eine solche Verzeichnung jedoch zur Folge, daß im Randbereich gerade Linien (am stärksten solche, die tangential zu konzentrischen Kreisen, also in rechtem Winkel zu Radien verlaufen) deutlich erkennbar durchgewölbt dargestellt werden, und zwar mit dem „Bauch“ zur Sehfeldmitte hin.
Da bei ungeschwenktem Fernglas kein Globuseffekt auftritt, ist für die stationäre Beobachtung ein nicht verzeichnendes Fernglas besser, für das die obengenannte Formel für den SSW gilt. Wenn jedoch oft oder gar fast immer bei der Beobachtung das Fernglas geschwenkt wird (z.B. bei vielen militärischen Einsätzen zur Suche nach feindlichen Soldaten, Panzern, Flugzeugen oder Schiffen) und die beobachteten Motive keine größeren Gebäude mit langen geraden Kanten sind, so daß die Verzeichnung gar nicht wahrgenommen werden kann, ist das kissenförmig verzeichnende Fernglas im Vorteil, dessen Sehwinkel je nach Ausmaß der kissenförmigen Verzeichnung größer ist, als sich aus der obigen Formel ergibt.
Es hat sich in der Praxis gezeigt, daß die auf einen guten Kompromiß zwischen nicht übertrieben starker Verzeichnung einerseits und doch gut eliminiertem Globuseffekt abgestimmten Ferngläser einen scheinbaren Sehwinkel haben, der näher am Ergebnis der einfachen Formel
SSW = V · TSW
ist. Das und die Einfachheit dieser Formel haben dazu geführt, daß viele Fernglashersteller und die meisten Anwender (insbesondere solche, die mit Winkelfunktionen nicht vertraut sind) diese neuere Formel benutzen.
Es hat sich ferner gezeigt, daß die führenden europäischen Hersteller Leica, Swarovski und Zeiss (und noch weitere) doch eine beträchtliche kissenförmige Verzeichnung um und sogar über 10% riskieren, um dem Globuseffekt entgegenzuwirken, während die führenden japanischen Hersteller Canon, Fujinon und Nikon (Reihenfolge in beiden Fällen alphabetisch) nur sehr wenig, manchmal fast gar keine Verzeichnung anstreben. Dennoch kann man den Prospekten auch dieser Hersteller in den technischen Daten fast immer scheinbare Sehwinkel entnehmen, die nichts mit den an den Ferngläsern meßbaren scheinbaren Sehwinkeln zu tun haben, sondern mit eben dieser einfachen Formel aus dem tatsächlichen Sehwinkel berechnet worden sind, OBWOHL diese Ferngläser kaum verzeichnen. Aber die Berechnung nach dieser einfachen Formel verlockt zu ihrem Gebrauch, weil sie deutlich größere SSW liefert, die im Prospekt und beim Vergleich mit anderen Ferngläsern einfach besser aussehen.
Wenn Nikon jetzt tatsächlich die „alte“ Formel benutzt haben sollte, so wäre das ein Zeichen dafür, einerseits mehr Ehrlichkeit in den technischen Daten einziehen zu lassen und andererseits, daß die neue Fernglasserie ähnlich wie die HG-L-Serie kaum verzeichnet, Nikon also dem bisherigen Konzept für vorwiegend stationäre Beobachtung treu geblieben ist.
Walter E. Schön