Im Prinzip könnte man sich auf einen der beiden Parameter beschränken, aber es gibt Gründe, warum man beide benutzt. Das liegt am unterschiedlichen Zusammenhang mit der Vergrößerung des Fernglases.
Wenn man durch ein Fernrohr oder eine Hälfte eines binokularen Fernglases schaut, so befinden sich alle durchs Fernglas beobachtbaren Gegenstände innerhalb eines zur optischen Achse (= Blickrichtung des Fernglases) symmetrischen Kegels, dessen Spitze in der Mitte der Eintrittspupille (etwa in der Mitte des Objektivs) liegt. Denkt man sich diesen Kegel in einem Abstand von 1000 m von der Kegelspitze (vom Fernglasobjektiv) von einer zur optischen Achse rechtwinkligen Ebene geschnitten, so ist die Schnittfläche ein Kreis, dessen Durchmesser genau die Größe des in Meter auf 1000 m angegebenen tatsächlichen Sehfeldes hat.
Je größer dieser Wert ist, um so mehr kann man im Fernglas überblicken. Aber es leuchtet auch ein, daß mit zunehmender Vergrößerung (z.B. 7x, 8x, 10x, 12x, 15x, 20x) dieses tatsächliche Sehfeld auf 1000 m immer enger werden muß.
Deshalb eignet sich zunächst (das wird sich aber gleich ändern!) der Wert des tatsächlichen Sehfeldes nur zum Vergleich von Ferngläsern identischer Vergrößerungen, also z.B. von ausschließlich 8fach vergrößernden Ferngläsern. Man kann natürlich ebenso ausschließlich 10fach vergrößernde Ferngläser im tatsächlichen Sehfeld vergleichen. Aber wenn man die Werte von 8fach vergrößernden mit denen von 10fach vergrößernden Ferngläsern vergleichen will, dann funktioniert das so nicht. Aber das kann man mit einem kleinen Trick trotzdem tun, wenn man es so macht, wie ich es seit vielen Jahren mache:
Ich „normiere“ alle tatsächlichen Sehfelder auf 10fache Vergrößerung, indem ich den angegebenen Wert mit einem Zehntel der Vergrößerung multipliziere, also mit der Zahl, welche den Vergrößerungsfaktor angibt, aber mit um eine Stelle nach links versetztem Komma.
Beispiel: Das tatsächliche Sehfeld von 8fach vergrößernden Ferngläsern multipliziere ich mit 0,8, das Sehfeld von 7fach vergrößernden mit 0,7 und das Sehfeld von 12fach vergrößernden Ferngläsern multipliziere ich mit 1,2. Auf diese Weise bekomme ich eine Sehfeldgröße, die ein Fernglas mit 10facher Vergrößerung hätte, wenn es (unter Vernachlässigung der Verzeichnung) denselben scheinbaren Sehwinkel hätte, also beim Blick durchs Fernglas einen scheinbar gleich großen Bildkreis zeigte.
Wenn ein 10fach-Fernglas z.B. 120 m auf 1000 m zeigt, was ein sehr guter Wert ist, dann müßte ein 8fach-Fernglas 120 m : 0,8 = 150 m auf 1000 m bieten, damit man beim Blick durchs Fernglas den Eindruck eines gleich großen Bildkreises hat (in dem aber mehr von der Landschaft etwas weniger stark vergrößert zu sehen ist). Hingegen müßte ein 12fach-Fernglas für ebenfalls denselben Eindruck ein tatsächliches Sehfeld von 120 m : 1,2 = 100 m bieten (in dem zwar weniger von der Landschaft, dafür aber etwas größer zu sehen ist).
Wie man sieht, kann man auch anhand der tatsächlichen Sehfelder entgegen der anfänglichen Befürchtung Ferngläser unterschiedlicher Vergrößerung miteinander vergleichen, wenn man sich die Mühe der Multiplikation mit einem Zehnten der Fernglasvergrößerung macht: beim 8fach-Glas mit 150 m Sehfeld ergibt die Multiplikation 150 m · 0,8 = 120 m und beim 12fach-Glas mit 100 m ergibt sie 100 m · 1,2 = 120 m, also denselben Wert, den das 10fach-Glas hat. Also bieten alle diese drei Modelle ungeachtet ihrer verschiedenen Vergrößerungen beim Durchschauen den Eindruck eines gleich großen Bildkreises.
Weil das Multiplizieren selbst so einfacher Zahlen bei den meisten Menschen leider als „mühsam“ gilt, machen es die Hersteller den rechenfaulen Menschen einfacher, indem sie auch noch den scheinbaren Sehwinkel angeben. Das ist der Winkel, unter dem das Auge beim Blick ins Fernglas zwei einander gegenüberliegende Punkte auf dem Bildkreisrand sieht. Dieser Sehwinkel wäre bei den obengenannten drei Beispiel-Ferngläsern jeweils gleich, weil auch der Bildkreis gleich erscheint, wenn die drei Ferngläser nicht verzeichnen oder am Bildkreisrand gleich stark verzeichnen.
Da eine (im allgemeinen kissenförmige) Verzeichnung den Bildkreis ohne Zugewinn an Sehfeld aufbläht, sagt die zuerst von mir angegebene Methode (Multiplikation des tatsächlichen Sehfeldes mit einem Zehntel des Vergrößerungsfaktors) mehr darüber aus, wieviel man von der Landschaft überblicken kann, als der scheinbare Sehwinkel, der bei einem hohen Verzeichnungswert mehr vortäuscht, als tatsächlich geboten wird.
Andererseits liefert eine größere kissenförmige Verzeichnung den Beobachtern, die den Globuseffekt beim Schwenken des Fernglases während des Beobachtens als störend empfinden, eine weitgehende Kompensation dieses Effekts und hat (zumindest für diese Menschen) auch ihr Gutes. Und ferner trägt die Vergrößerung des scheinbaren Sehwinkels durch eine stärkere kissenförmige Verzeichnung dazu bei, den Blick durchs Fernglas nicht so stark als Blick durch eine Röhre („Tunnelblick“) zu empfinden. Deshalb wird der scheinbare Sehwinkel (SSW) eben doch sehr gern als Qialitätsparameter dafür benutzt, wie „frei“ der Blick durchs Fernglas erscheint.
An dieser Stelle muß ich aber davor warnen, Herstellerangaben miteinander zu vergleichen. Denn die Hersteller ermitteln den SSW in den technischen Daten auf sehr unterschiedliche Weise: So gut wie kein Hersteller mißt den Wert (wie ich es in der langen, demnächst über 50 Modelle umfassenden Liste gemacht habe), sondern manche Hersteller berechnen ihn durch Multiplikation des tatsächlichen Sehwinkels (der aber oft stark gerundet und deshalb nicht sehr genau ist) mit der Vergrößerung, während andere ihn mit Hilfe einer trigonometrischen Formel berechnen, die theoretisch genauer, tatsächlich aber nur dann exakt ist, wenn das Fernglas nicht verzeichnet. So hat z.B. Nikon erst vor wenigen Monaten anläßlich der Vorstellung der für August erwarteten neuen EG-Serie die Berechnungsmethode für den SSW ganz offiziell geändert (früher TSW mal Vergrößerung, jetzt triginometrische Formel). Je nachdem, welche Methode der Hersteller benutzt, sind dann die Werte für verschiedene Fabrikate vergleichbar oder eben auch nicht (nämlich dann, wenn verschiedene Methoden benutzt werden). Wirklicher Verlaß ist darum nur auf tatächliche Meßwerte, in die dann die tatsächliche Verzeichnung korrekt mit eingeht. Darin sehe ich den Nutzen meiner hier im Forum veröffentlichten Meßwerte, die ich weiterhin pflegen will.
Nun fragen Sie zum Schluß, ob der Unterschied von 4,5° im SSW bei den von Ihnen verglichenen Ferngläser merkbar ist. Ja, er ist merkbar. Sie haben beim Blick durch ein Fernglas mit größerem SSW (unabhängig von der Vergrößerung) den Eindruck, daß Ihr Blickwinkel durchs „Rohr“ weniger stark limitiert ist. Allerdings sind in der Praxis einige wenige Grad kaum von Bedeutung; sie merken z.B. 2° Unterschied bei relativ weitwinkligen Ferngläsern (SSW um ca. 60°) bestenfalls beim direkten Vergleich. Die 4,5° könnten einem erfahrenen Beobachter jedoch auch dann schon auffallen, wenn er jetzt durch das eine Fernglas und zu einem anderen Zeitpunkt durch das andere schaut. Aber wirklich auffallend wird es erst, wenn der Unterschied etwa ab 6° bis 8° wird. Vergleichen Sie jedoch Ferngläser mit viel engerem SSW, z.B. Kompaktferngläser, deren SSW eher um ca. 50° liegt, werden Ihnen schon 4° oder 5° Unterschied auffallen.
Ein gewisses Problem beim Vergleichen von (scheinbaren) Sehwinkeln ist, daß der Zuwachs an Sehfeld nicht linear ist. Vergleicht man tatsächliche Sehwinkel, die bei Ferngläsern in der Größenordnung zwischen etwa 5° und 10° liegen, so ist die Abweichung von der Linearität noch gering (für mathematisch Bewanderte: der Tangens des Winkel kann näherungsweise durch den Winkel selbst ersetzt werde). Aber in der Größenordnung der scheinbaren Sehwinkel (ca. 45° bis 65° bei Ferngläsern) ist die Abweichung von der Linearität schon sehr erheblich.
Deshalb benutze ich zur Klassifizierung und als Qualitätskriterium viel lieber das eingangs beschriebene mit n/10 multiplizierte tatsächliche Sehfeld (n = Vergrößerung) beim Vergleichen von Ferngläsern unterschiedlicher Vergrößerung.
Ich hoffe, daß das alles bei Ihnen mehr zur Klarheit statt zu weiterer Verwirrung beitragen kann.
Walter E. Schön