Der räumlichere Eindruck, den Porroferngläser aufgrund der größeren Stereobasis (= Abstand zwischen beiden Objektivachsen) im Vergleich zu Dachkantferngläsern in nahem bis mittlerem Entfernungsbereich bieten, zieht die vordere und hintere Grenze der(selben) Schärfentiefezone im räumlich wahrgenommenen Bild fast doppelt so weit auseinander, wie sie bei einem Dachkantfernglas gleicher Vergrößerung erscheint. Das gibt, obwohl die Grenzen der Schärfentiefe objektiv gesehen an exakt denselben Gegenständen liegt, die Illusion, die vordere und hintere Grenze der Schärfentiefezone lägen tatsächlich weiter auseinander.
Um sich ein korrektes Bild von den Schärfetiefeverhältnissen zweier zu vergeichender Ferngläser zu machen, muß man den direkten Vergleich haben. Viele, die behaupten, Fernglas A habe eine größere Schärfentiefe als das gleich stark vergrößernde Fernglas B, urteilen aus einer sehr vagen Erinnerung. Man hat irgendwann an irgendeinem Motiv einen groben Eindruck von der Schärfentiefe von Fernglas A erhalten. Zu einem anderen Zeitpunkt geschah dasselbe auch mit Fernglas B, aber nicht nur zu einem anderen Zeitpunkt, sondern auch anhand eines anderen Motivs in einer anderen Entfernung, vielleicht auch bei unterschiedlicher Umgebungshelligkeit (so daß die für die Schärfentiefe auch maßgebliche Größe der Augenpupille verschieden war) und zu unterschiedlicher Tageszeit (morgens ist man ausgeruht und kann besser akkommodieren als abends, wenn man schon etwas müde ist).
Der direkte Vergleich kann z.B. so aussehen:
Man sucht sich einen langen, garadlinig verlaufenden Gartenzaun (z.B. mindestens 10 m lang) mit relativ engstehenden Zaunlatten. Dann stellt man sich in ca. 10 m Entfernung zur irgendwie deutlich markierten Mitte der Zaunlänge in spitzem Winkel (ca. 30°) zum Verlauf des Zauns auf, so daß man im Falle eines genau 10 m langen Zauns etwa 5,5 m bis 6 m vom vorderen Ende und knapp 15 m vom hinteren Ende des 10 m langen Zaunstücks entfernt steht.
An dieser Stelle baut man zwei Stative so nah nebeneinander wie möglich auf, auf denen dann die beiden zu vergleichenden Ferngläser zitter- und wackelfrei befestigt werden. Möglichst dicht beieinander müssen die Ferngläser deshalb stehen, weil sie sonst aus deutlich unterschiedlichem Winkel auf den sich von vorn nach hinten erstreckenden Zaun schauen und dann das vom nahe gelegenen Ende des Zauns weiter entfernte Fernglas im Vorteil wäre, weil es steiler auf den Zaun schaut.
Nun stellt man beide Ferngläser sorgfältig auf die irgendwie markierte Mitte des Zauns ein und prüft, von welcher Zaunlatte vor der Zaunmitte bis zu welcher Zaunlatte hinter der Zaunmitte man alles scharf zu sehen empfindet. Wenn bei einem der beiden Ferngläser die vordere UND die hintere Schärfentiefegrenze weiter weg liegt als beim anderen Fernglas, hat man nicht exakt genug auf dieselbe Zaunlatte in der Zaunmitte scharfgestellt. Man wird bei präziser Einstellung auf denselben Punkt feststellen, daß ungeachtet des Fabrikats und ungeachtet des Prismentyps (Porro oder Dachkant) bei beiden Ferngläsern der scharf gesehene Bereich an derselben Stelle beginnt und an derselben Stelle endet (leider ist wegen des fließenden Übergangs von Schärfe zu Unschärfe die Grenze nicht auf den Zentimeter genau auszumachen). Man sollte mehrmals kontrollieren und am besten auch weitere Personen am Test beteiligen, die im Idealfall nicht wissen, worum es genau geht (damit sie keine das Ergebnis beeinflussende Erwartungshaltung haben). Ideal sind Testpersonen im Alter von über ca. 50 Jahren, weil sie weniger stark akkommodieren können als jüngere Tester und daher einen kleineren Bereich mit deutlicher auszumachenden Grenzen scharf sehen.
Will man die leichte Verfälschung durch den geringfügig unterschiedlichen Standort der beiden Ferngläser eliminieren, so vertausche man die beiden Ferngläser für eine Wiederholung des Tests (also das zuvor links stehende Fernglas rechts und umgekehrt) und nehme aus beiden Testergebnissen den Mittelwert.
Bei einem Porrofernglas wird man hier den Eindruck haben, daß der Zaun steiler von vorn nach hinten verläuft bzw. das nahe Ende näher und das ferne Ende weiter weg sei, weil die größere Stereobasis den beobachteten Gegenstand nicht so stark in der Tiefe zusammenstaucht, wie es das Dachkantfernglas macht. Insofern kann dann der Eindruck einer größeren Schärfentiefe beim Porroglas entstehen, aber es wird bei sorgfältig ausgeführtem Vergleich dieselbe Zaunlatte vorne und dieselbe Zaunlatte hinten sein, die den scharf empfundenen Bereich des Zauns begrenzt.
Walter E. Schön