Wenn Sie sich nicht vorstellen können, daß Miyauchi (oder, wie Sie sagen, „eine kleine Optikbude“) auf Winkelsekunden genau arbeitet und 50 Schichten Vergütung aufdampft, dann liegen Sie schon richtig. Aber das rechtfertigt keineswegs, die von Herrn Weigand genannte Genauigkeitsforderung bei der Einhaltung des Dachkantenwinkels und die von ihm genannte Zahl der Vergütungs- oder Verspiegelungsschichten als „Genauigkeitsphantasien" zu diffamieren!
Miyauchi baut aus gutem Grund, nämlich u.a. weil Miyauchi diese Genauigkeitsforderungen nicht einhalten kann, keine Dachkantferngläser. Denn bei Porro-I- und Porro-II-Prismensystemen ist die Einhaltung der Winkel der spiegelnden Prismenflächen vergleichsweise unkritisch, weil erstens keine Pupillenteilung mit anschließender Bildüberlagerung stattfindet (bei welcher größere Dachkantenwinkel zu Doppelkonturen und störenden Interferenzen führten) und zweitens Winkelfehler der Prismen durch Justage beim Einbau ausgeglichen werden können (sofern sie nicht zu groß sind). Ferner ist eine Verspiegelung nicht erforderlich, und somit werden die ca. 50 Schichten einer dielektrischen Verspiegelung nicht gebraucht.
Unabhängig von Herrn Weigand hatte auch ich schon vor Jahren hier und an anderen Stellen (A.de) als Genauigkeitsforderung beim Dachflächenwinkel von Dachkantprismen „wenige Winkelsekunden“ genannt, z.B. hier:
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www.juelich-bonn.com]
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www.juelich-bonn.com]#
Sicher haben sich auch noch viele andere, die mit der Fernglasoptik vertraut sind, in gleicher Weise geäußert. Es sind also keine Phantasien, sondern physikalisch begründbare und experimentell verifizierbare Forderungen, wenn das Fernglas in der Spitzenklasse konkurrenzfähig sein soll. Wenn es dann in der Spitzenklasse noch ganz vorn liegen soll, sind 1" bis 2" tatsächlich das zulässige Maximum.
Daneben ist übrigens auch die Sauberkeit der Dachkante (kein zerklüfteter Grat, sondern eine schnurgerade, extrem feine Linie ohne Ausbrüche) eine schwierig und darum nur mit viel Know-how und Sorgfalt (u.a. sehr langsames Polieren) erfüllbare Forderung. Denn wenn die Dachkante keine fast unsichtbar dünne Linie quer zur optischen Achse im Strahlengang ist, dann treten dort störende Beugungserscheinungen auf (ähnlich wie von der Fangspiegelspinne von Newton-Teleskopen als „Spikes“ an Lichtpunkten bekannt).
Übrigens hat auch der bei Dachkantprismen zur Vermeidung schärfe- und kontrastmindernder Interfrenzeffekte nötige Phasenkorrekturbelag ähnlich viele Schichten wie die dielektrische Verspiegelung. Sie haben bei Leica vielleicht in den Prospekten die dortige Bezeichnung „P40“ für den Phasenbelag gelesen. Die Zahl 40 ist von den ursprünglich 40 Schichten dieses Belags abgeleitet, der heute noch einige Schichten mehr aufweist, aber immer noch P40 heißt. Bei Swarovski und Zeiss wird die Zahl ähnlich sein.
Daß Dachkantferngläser von Bresser, Celestron, Meade, Tasco, Bushnell usw. zu Verkaufspreisen um oder nur wenig über 200 Euro derartige Genauigkeitsforderungen niemals erfüllen können, leuchtet jedem ein. Daher kommt es dann, daß mancher, der die Folgen der nicht eingehaltenen Forderungen als mangelhafte Bildqualität wahrnimmt, aus Unkenntnis über die Ursachen meint, Dachkantferngläser seien prinzipiell schlechter als Porroferngläser. Richtig ist vielmehr, daß Dachkantferngläser genausogut sein können, dafür aber aus mehreren Gründen (Dachflächenwinkelgenauigkeit, Dachkantensauberkeit, Phasenbelag und meistens auch noch Verspiegelung einer Fläche) sehr viel höheren Aufwand erfordern und darum deutlich teurer sein müssen. Ob der Mehrpreis für den Anwender durch den Komfortgewinn (Volumen, Form, Haptik, evtl. Gewicht, Innenfokussierung), die einfacher mögliche Wasserdichtheit und die stark verbesserte Nahbereichstauglichkeit gerechtfertigt ist, steht auf einem anderen Blatt und muß von jedem Anwender individuell beantwortet werden.
Sprechen Sie also bitte nicht abfällig von „Phantasien“, wenn hier korrekt mit belegbaren Zahlenwerten argumentiert wird.
Walter E. Schön