Hier hat sich der Autor der Zeiss-Texte unglücklich ausgedrückt. Natürlich kann das Diadem kein echtes keplersches Fernglas sein, denn dann müßte es entweder ein kopfstehend seitenverkehrtes Bild liefern (wie das ursprüngliche keplersche Fernrohr) oder seine Baulänge mehr als dreimal so groß sein (wie beim späteren terrestrischen keplerschen Fernrohr). In diesen kurzen Röhrchen läßt sich keine Bildumkehrung durch eine zusätzliche Zwischenabbildung realisieren.
Was der Autor wohl mit seinem Bezug auf Kepler meinte, war die Existenz einer reellen Zwischenabbildung und die Verwendung eines sammelnden Linsensystems als Okular (wie beim keplerschen Fernrohr) anstelle eines zerstreuenden Linsensystems (wie beim galileischen Fernrohr).
Da das Diadem jedoch ein aufrechtes, seitenrichtiges Bild zeigt, kann es kein keplersches Fernrohr der ursprünglichen Bauart sein. Es kann aber auch kein terrestrisches keplersches Fernrohr sein, denn im Zeiss-Text steht wortwörtlich „ist ein Fernglas mit Umkehrprismen“. Das terrestrische keplersche Fernrohr hat keine Umkehrprismen, sondern bewerkstelligt die 180°-Bilddrehung durch eine zusätzliche Zwischenabbildung. Folglich ist „Diadem = Kepler" definitiv falsch.
Man kann die Linsenfernrohre nach ihrem optischen Aufbau grob in 4 Gruppen aufteilen:
1. Galilei-Fernrohr: Sammelndes Objektiv, zersteuendes Okular, keine Bilddrehung, daher auch keine Gegenmaßnahme erforderlich. Nachteil: Schlechtes Einblickverhalten (da Austrittspupille vor statt hinter dem Okular), kleiner SSW (= scheinbarer Sehwinkel), keine hohen Vergrößerungen sinnvoll, da der SSW schnell winzig klein und das Einblickverhalten immer schlechter wird.
2. Kepler-Fernrohr: Sammelndes Objektiv, sammelndes Okular, dazwischen reelle Abbildung um 180° gedreht, und deshalb auch für den Betrachter ein kopfstehend seitenverkehrtes Bild. Vorteil: Einfache Bauweise, sehr hohe Bildqualität möglich, sehr hohe Vergrößerung möglich, ab etwa 5facher Vergrößerung auch sehr großer SSW möglich. Nachteil: kopfstehend seitenverkehrtes Bild, daher fast nur als astronomisches Fernrohr sinnvoll einsetzbar, daneben auch noch in verschiedenen Geräten z.B. als Ableseinstrument, wenn die zu beobachteten Gegenstände (z.B. Skalen, Instrumente) um 180° gedreht angeordnet werden können oder ihre Orientierung gleichgültig ist.
3. Terrestrisches Kepler-Fernrohr: Sammelndes Objektiv, sammelndes Okular, dazwischen reelle Abbildung um 180° gedreht, die durch ein dahinter angeordnetes zweites („Makro“-)Objektiv mit einem Abbildungsmaßstab meistens nahe 1:1 nochmals um 180° gedreht und somit wieder aufrechtstehend und seitenrichtig wird. Nachteil: Sehr große Baulänge (siehe Zielfernrohre, die nach diesem Prinzip gebaut sind) und ebenfalls relativ enger Sehwinkel (oder sehr großer Durchmesser des Zwischenobjektivs sowie Feldlinsen nötig). Vorteil ist ein relativ geringes Gewicht, wenn der Sehwinkel klein bleiben darf, und eine sehr einfache Möglichkeit, eine variable Vergrößerung durch axiale Verschiebung des Zwischenobjektivs (und zusätzliche Linsenverschiebungen zur Erhaltung eines konstanten Objektiv-Okular-Abstandes) zu ermöglichen. Die beiden Zwischenbilder geben zudem die Möglichkeit, dort Teilungen, Visiermarken usw. („Absehen“) entweder so einzurichten, daß ihre Größe proportional zur Objektgröße variiert (Marke in der vorderen Zwischenbildebene), also beim Zoomen mitvergrößert oder mitverkleinert wird, oder proportional zur scheinbaren Sehfeldgröße bleibt (Marke in der hinteren Zwischenbildebene), also unabhängig vom Zoomen konstant groß erscheint.
4. Prismen-Fernrohr: Sammelndes Objektiv, sammelndes Okular, dazwischen reelle Abbildung um 180° gedreht, die durch ein vor dem Zwischenbild angeordnetes Umkehrprismensystem horizontal und vertikal „umgeklappt“, also quasi nochmals um 180° gedreht und damit wieder aufrechtstehend und seitenrichtig wird. Vorteil: Kurze Baulänge durch „Faltung“ des Strahlengangs, sehr hohe Vergrößerung möglich, ab etwa 5facher Vergrößerung auch sehr große scheinbare Sehwinkel möglich. Große Vielfalt an Umkehrprismensystemen bekannt, heute aber fast nur noch sechs davon in Verwendung: am häufigsten Porro 1 und Schmidt(-Pechan), seltener Abbe-König (z.B. Zeiss, Nikon HG) und Porro 2 (z.B. Canon IS, Zeiss 20x60) und fast ausgestorben Uppendahl (Leica Trinovid, neuerdings in einer modifizierten Form im neuen Leica Geovid wiederbelebt).
Walter E. Schön