Was Steiner über die angeblich größere Schärfentiefe behauptet, ist Unsinn und darum nicht patentfähig. Das einzig Phänomenale daran ist, daß immer wieder ahnungslose Fernglasfreunde auf diese unhaltbare Behauptung hereinfallen (Placebo-Effekt durch provozierte Erwartungshaltung). Die Schärfentiefe bei Betrachtung durch ein Fernglas hängt von folgenden Größen ab:
1. Akkommodationsfähigkeit des Auges des Betrachters. Junge Menschen mit großer Akkommodationsbreite (bis zu 14 dpt im Alter um 15 Jahre, ca. 12 dpt um 22 Jahre, ca. 9 dpt um 30 Jahre, dann relativ rasch abnehmend auf ca. 6 dpt um 40 Jahre und ca. 2 dpt um 50 Jahre mit einem meistens annähernd stabilen Endwert von ca. 1 dpt ab 60 Jahre (alles Durchschnittwerte, im Einzelfall sind gewisse Abweichungen möglich). Ein junger Mensch wird also immer einem Fernglas eine größere Schärfentiefe attestieren als ein älterer Mensch, wobei der Unterschied gar nicht am Fernglas liegt und physikalisch mit Schärfentiefe gar nichts zu tun hat, sondern nur aus der besseren und größeren Anpassungsfähigkeit der Auges resultiert, das also die beim Fernglas fehlende Fokussierung selbst übernimmt bzw. ersetzt.
2. Von der Größe der effektiven Eintrittspupille des Auges. Das ist die kleinere Pupille von a) Augenpupille und b) Austrittspupille des Fernglases. Bei hellem Licht (Tagbeobachtung) kann die Augenpupille z.B. 2 mm oder 2,5 mm klein sein, und dann sieht man eine große Schärfentiefe (das Auge ist wie das Objektiv einer Kamera „abgeblendet“). Wenn sich in der Dämmerung die Pupille z.B. auf 4 mm weitet (das Auge ist „aufgeblendet“) und die AP der Fernglases mindesten ebenso groß ist, sieht man mit demselben Fernglas bei Scharfeinstellung auf denselben Gegenstand eine deutlich kleinere Schärfentiefe, und wenn man nachts mit ganz offeren Pupille von z.B. 7 mm schaut und mit den Stäbchen (Sensoren fürs Hell-dunkel-Sehen) statt mit den Zapfen sieht (Sensoren fürs Farbensehen) und das Fernglas auch mindestens 7 mm AP hat, ist die Schärfentiefe noch viel kleiner – und das Auge kann dann auch mit den Stäbchen gar nicht akkomodieren, selbst bei jungen Menschen!
Wenn das Fernglas eine kleinere AP hat, z.B. ein 10x32 mit 3,2 mm in der Dämmerung mit einer Augenpupille von 4 mm, dann ist die Helligkeit gegenüber einem anderen Fernglas mit größerer AP, z.B. 10x50 mit 5 mm AP, etwas reduziert, aber die Schärfentiefe größer, denn dann ist die effektive Eintrittspupille des Auges beim 10x32 nur 3,2 mm gegenüber 4 mm beim 10x50.
3. Die Schärfentiefe hängt auch vom Vergrößerungsfaktor ab, und zwar ist sie umgekehrt proportional zum Quadrat der Vergrößerung. Ein 8fach-Fernglas hat also gegenüber einem 10fach-Fernglas (bei gleicher effektiver Eintrittspupille gemäß obigem Punkt 1) eine um ca. 56% größere Schärfentiefe, denn
(10:8)ˆ2 = 1,25ˆ2 = 1,5625 oder 56,25% mehr als 1.
4. Eventuell kann die Transmission eines Fernglases die Schärfentiefe gerigfügig mit beeinflussen. Denn wenn ein Fernglas A eine deutlich größere Transmission als ein in den Daten (z.B. 10x42) identisches Fernglas hat, das eigentlich unabhängig von seiner Bauart exakt dieselbe Schärfentiefe (für denselben Beobachter) bieten müßte, dann wird sich aufgrund der höheren Bildhelligkeit die Augenpupille des Beobachters evtl. ein klein wenig mehr verengen als beim anderen Fernglas, und wenn dann die Augenpupille kleiner ist als die AP des Fernglases, dann kommt wieder der obige Punkt 2 zum Tragen, denn dann ist beim Fernglas mit höherer Transmission die effektive Pupille ein wenig kleiner und somit die Schärfentiefe ein wenig größer.
Alle Behauptungen, spezielle Okularkonstruktionen, spezielle Linsen, Glassorten, Prismen oder sonstwas, könnte die Schärfentiefe gegenüber anderen Ferngläsern gleicher Kenndaten (z.B. 10x42) verbessern, sind Unsinn und irreführende Lügen. Die Fachleute bei Steiner, mit denen ich vor ca. 2 Jahren deswegen ein längeres Telefonat geführt hatte, wissen das auch, aber die Marketingleute dort haben keine Hemmungen, ihren potentiellen Kunden nach wie vor diese Lügen aufzutischen. Und ich wage es, das hier in aller Deutlichkeit öffentlich zu sagen, und ich bin sicher, daß weder Steiner noch sonst irgendwer den Mut haben wird, mich daraufhin wegen „übler Nachrede“ oder „Geschäftsschädigung“ zu verklagen.
Einen Punkt gibt es noch zu berücksichtigen: Wenn ein Fernglas z.B. als 10x42 deklariert wird, aber die Objektivgröße in Wirklichkeit etwas kleiner ist (weil der Hersteller großzügig aufgerundet hat oder weil hinter dem Objektiv wegen mieser Qualität noch ein bißchen abgeblendet wird) oder wenn zu kleine Umkehrprismen vignettieren, dann sind die angegebenen Kenndaten falsch, und dann muß zur Beurteilung der Schärfentiefe selbstverständlich von den korrekten Kenndaten (unter Berücksichtigung der Abblendung bzw. Vignettierung) ausgegangen werden, also z.B. das Fernglas als 10x38 zugrundegelegt werden, woraus sich dann bei großer Augenpupille entsprechend geringere Helligkeit und ein etwas größere Schärfentiefe ergeben. Und dasselbe gilt auch für eine falsch deklarierte Vergrößerung. Wenn z.B. bei einem als 10x42 bezeichneten Fernglas die Vergrößerung nur 9,2fach wäre, dann ist natürlich gemäß dem obigen Punkt 3 auch die Schärfentiefe größer.
Machen Sie mit dem Steiner-Fernglas folgenden Test: Nehmen Sie ein zweites Fernglas (z.B. von Leica, Zeiss, Swarovski, Nikon) derselben Daten. Stellen Sie sich nahe neben einen längeren Gartenzaun, so daß Sie nahezu parallel zum Verlauf des Gartenzauns in ca. 8 bis 10 m Entfernung die in der Tiefe gestaffelten Zaunlatten dicht an dicht sehen können. Fokussieren Sie beide Ferngläser auf einen markanten Punkt des Zauns, z.B. auf einen irgendwie gekennzeichneten Pfosten. Schauen Sie dann, wie viele Zaunlatten vor und wieviele hinter dem Pfosten Sie als noch scharf abgebildet empfinden. Sie werden sehen, daß es beim Steiner-Glas genauso viele Zaunlatten wie bei jedem x-beliebigen anderen Fernglas gleicher Kenndaten sind.
Ich möchte als Fazit Ihren ersten Satz „Die Firma Steiner hat ein Fernglas im Angebot, bei dem man die Entfernung nicht korrigieren muß” wie folgt richtigstellen:
„Die Firma Steiner hat ein Fernglas im Angebot, bei dem man die Entfernung nicht korrigieren KANN.” Das ist ein gravierender Mangel.
Walter E. Schön
Nachtrag
So kann es passieren, wenn man sehr ausführlich antwortet un darum relativ lang mit dem Schreiben beschäftigt ist: Da kommt einem dann ein anderer mit seiner kürzeren Antwort zuvor. Ich sage das, um wissen zu lassen, daß ich beim Schreiben meiner Antwort die von Herrn Wehr noch gar nicht kannte, sondern sie erst sah, nachdem ich meine Antwort abgeschickt hatte. Aber erfreulicherweise sind wir uns diesmal endlich mal wieder in der Beurteilung völlig einig, so daß uns neue Kontroversen erspart bleiben.