Ich muß jetzt ein bißchen vorsichtig sein, denn es könnte ja sein, daß der bei Steiner geschulte Verkäufer etwas nicht richtig verstanden und darum falsch wiedergegeben hat. Ich vermute jedoch eher, daß er bei Steiner tatsächlich mit solcher falscher Information oder derartig mit geschickt formulierten Aussagen „getrimmt“ wurde, daß er sich das nur selber so zusammenreimt.
Wie auch immer, ich stehe dazu, daß seine Behauptung völliger Unsinn ist. Reden Sie doch mal mit Steiner, wenn Sie denen mehr vertrauen als mir, sagen sie denen, daß sie doch mal hier ins Forum schauen und mir gern ihre Gegenargumente an den Kopf werfen dürfen (so sie glauben, welche zu haben). Ich gehe sogar noch weiter: Wenn es einem Steiner-Experten gelingt, meine diesezüglichen Argumente zu widerlegen, dann schenke ich ihm zur Belohnung meine schöne Ventura-Armbanduhr.
Die einzige Möglichkeit, die Schärfentiefe durch die Okularkonstruktion geringfügig zu beeinflussen, wäre, eine gewisse sphärische Unterkorrektion zuzulassen (wie das z.B. in ausgeprägter Form beim bekannten Weichzeichner-Fotoobjektiv Rodenstock Imagon der Fall ist). Die sphärische Unterkorrektion ergibt als Einhüllende (sog. „Kaustik”) der konvergierenden Lichtstrahlen statt eines spitzen Doppelkegels mit der Spitze als scharfem Bildpunkt ein (rotationssymmetrisches) Hyperboloid, das am Ort engster Einschnürung (= schäfster Bildpunkt) einen deutlich von Null verschiedenen Durchmesser hat (d.h. unscharfe Abbildung!) und beiderseits davon seinen Durchmesser nur langsam ändert. In eine allgemeinverständliche Sprache übersetzt: man bekommt bei bestmöglicher Scharfeinstellung ein etwas unscharfes Bild, und wenn man defokussiert, dann ändert sich der Grad der Unschärfe zunächst nur wenig, so daß man den Eindruck bekommt, dort sei es fast genauso scharf (aber tatsächlich ist es dort nur fast genauso unscharf). Man hat also eine geringfügig größere Schärfentiefe mit erheblich schlechterer Schärfe bezahlt. Das ist bei einem Weichzeichnerobjektiv wie dem genannten Imagon kein Problem, weil die zur „Weichzeichnung“ erwünschte Überstrahlung ja auch nichts anderes als die Folge einer solchen als „Zonenfehler” bezeichneten Unschärfe ist. Ob Sie als Fernglasbenutzer aber gern ein Fernglas hätten, dessen Hersteller Ihnen ein klein wenig mehr Schärfentiefe zum Preis einer deutlich verschlechterten Bildschärfe bietet, wage ich zu bezweifeln.
Anders als durch solchen Schärfeverlust ist es (unter Beibehaltung der optischen Kenndaten „Vergrößerung“ und „effektive Objektivöffnung“ unmöglich, die Schärfentiefe zu erweitern. Auch eine längere Okularbrennweite hilft da nicht, denn wenn man damit die Vergrößerung nicht reduzieren will, muß man dann proportional dazu auch die Objektivbrennweite verlängern, und damit sind alle Effekte wieder weg und außerdem wird das Fernglas unnötig länger. Wenn die Leute von Steiner so einen Unsinn behaupten, haben sie entweder keine Ahnung (was bei Marketingleuten und Werbetextern nichts Ungewöhnliches, bei Optikfachleuten aber sehr erstaunlich wäre) oder sie lügen dreist (was in heutiger Zeit nicht so erstaunlich, aber schamlos wäre).
Sie sagen, daß Sie einen Test gemacht hätten. Haben Sie ihn so durchgeführt, wie ich ihn beschrieben hatte, und zum Vergleich andere Ferngläser exakt derselben Vergrößerung und exakt derselben Öffnung benutzt? Wenn nicht, dann sagt Ihr Test nichts aus. Er muß objektiv überprüfbar so durchgeführt werden, daß auch eine eventuelle Erwartungshaltung (z.B. aufgrund der Indoktrination durch den Verkäufer) ausgeschlossen ist. Sonst haben wir wieder den „Placeboeffekt“.
Was den zweiten Punkt betrifft, nämlich den „ausgelutschten Mitteltrieb“, so ist auch das ziemlicher Quatsch. Denn wir gehen hier ja beim Vergleich mit Steiner nicht von billigen Jahrmarkts-Ferngläsern für 5 Euro aus, sondern müssen zumindest im gleichen Preissegment bleiben. 1. Da wird dann ein Mitteltrieb bei normaler Nutzung sicher auch nach ein oder zwei Jahrzehnten nicht so „ausgelutscht“ sein, daß es zu solchen Problemen kommen könnte*. 2. Wenn der Mitteltrieb im Laufe der Zeit aufgrund rauher Behandlung tatsächlich etwas Spiel bekommen sollte, dann muß das immer noch nicht bedeuten, daß dieses Spiel auch für die Okulare gilt, die im Falle einer Fokussierung durch Okularhub in dieser Qualitätsklasse eine eigene Parallelführung haben. Bei Ferngläsern mit Innenfokussierung z.B. von Leica, Nikon, Swarovski, Zeiss (um sie in alphabetischer Folge aufzuführen) ist Steiners Aussage erst recht unzutreffend, weil dort die Okulare gar nicht bewegt werden, sondern mit einer Negativlinse hinter dem Objektiv (nach Art einer für variable Brennweite verschiebbaren Barlowlinse) fokussiert wird.
*Wenn Sie diesem Argument folgen, sollten Sie bei Ihrem nächsten Autokauf ein solches Modell (mit nur einem „Gang”) wählen, das kein Schalt- oder Automatikgetriebe hat, sondern bei dem die Motorwelle starr mit der Antriebswelle auf das Differential verbunden ist. Denn nur dann dürfen Sie sicher sein, daß Sie nach einigen Jahren nicht mit einem „ausgelutschen“ Getriebe umherfahren (die mechanische Belastung eines Autogetriebes ist sicher um viele Zehnerpotenzen größer als die eines Fernglas-Mittelktriebs, so daß eine solche Entscheidung beim Auto um vieles wichtiger als bei einem Ferglas wäre!
Ich habe – außer nach einem Fall eines Fernglases aus größerer Höhe auf harten Boden – noch nie von einem derartigen Verscheiß bei einem ordentlichen Fernglas gehört. Und wenn die Steiner-Leute auch noch gesagt haben sollten, wie Sie den Verkäufer zitieren, daß daraus außeraxiale Aberrationen (übrigens nur ein b und zwei r, da es von lateinisch „ab-errarre“ = „weg-irren“ und nicht von Prof. Ernst Abbe abgeleitet ist) resultierten, so ist auch das Quatsch, denn eine verkippte Linse erzeugt nicht nur außeraxial, sondern auch axial (also auch in der Bildfeldmitte) zusätzliche Abbildungsfehler. Mit Vorteilen eines Steiner-Fernglases gegenüber einem billigen Jahrmarkt-Ramsch so zu argumentieren, daß der potentielle Käufer meint, daß die Argumente auch auf ein im Preis vergleichbares Fernglas seriöser Hersteller zuträfen, ist unfair.
Ich hoffe, daß sich bei Steiner endlich jemand zu einer öffentlichen Diskussion stellt und z.B. hier Klartext redet, statt nur mangelhaft vorgebildete Händler auf den vom Marketing ausgedachten Kurs zu trimmen, damit diese dann die potentiellen Käufer mit Märchen und Lügen zum Kauf eines Steiner-Fernglases überreden.
Um Mißverständnisse zu vermeiden, möchte ich abschließend noch betonen, daß ich hier kein einziges negatives Wort über die optische oder mechanische Qualität von Steiner-Ferngläsern verloren habe. Ich kenne diese Ferngläser zu wenig, um dazu ein Urtei abgeben zu können. Aber ich kann mit voller Überzeugung sagen, daß ich jedem davon abrate, ein nicht fokussierbares Fernglas zu kaufen, und ich kann mit ebensolcher Überzeugung sagen, daß alle Aussagen, man könne die Schärfentiefe auf die von Steiner oder Ihrem Verkäufer behauptete Weise manipulieren, blanker Unsinn ist.
Walter E. Schön