Daß es bei manchen Anwendungen, vor allem aber je nach den vom Beobachter individuell gesetzten Prioritäten NICHT IMMER auf beste Randschärfe ankommt und durchaus andere Fernglasparameter wichtiger sein können, ist richtig. Aber fast allen anderen Behauptungen kann ich absolut nicht zustimmen.
Daß jemanden bei Betrachtung mit einem randscharfen Fernglas Übelkeit erfaßt hat, gehört ins Reich der Märchen. Wenn das so wäre, dann müßten diese Menschen immer dann, wenn sie nicht durch ein Fernglas schauen, sonder nur das unbewaffnete (eventuell mit einer Brille korrigierte) Auge benutzen, permanent an Übelkeit leiden. Gleiches gilt für die Konzentration. Hätten Sie recht, dann sollte man gesetzlich vorschreiben, daß die Windschutzscheiben aller Autos nur in einem vom Fahrer aus unter einem Winkel von max. 58° sichtbaren Bereich klar sind und außerhalb eine künstliche Trübung erhalten, damit sich der Fahrer besser auf den Verkehrsfluß, die Straßenführung und die Verkehrszeichen konzentrieren kann. Den Jäger oder Grenzschützer möchte ich gern kennenlernen, der bei der Wahl zwischen zwei sonst gleichwertigen Ferngläsern dasjenige bevorzugt, das den Bildrand unschärfer abbildet.
Daß es bei der Okularkonstruktion ab ca. 65° scheinbarem Sehwinkel schwierig wird, gute Randschärfe zu erreichen, ist klar. Daß die Verbesserung der Randschärfe eventuell nur unter Inkaufnahme anderweitiger Verschlechterungen möglich ist, ist nichts Neues, aber es gibt genügend Beispiele, die zeigen, daß diese Nachteile bei geschickter Konstruktion (z.B. bei Einsatz sogenannter Bildfeldebnungslinsen) sehr klein sein können und keinesfalls „schwerwiegend” sein müssen. Daß ein größeres scheinbares Sehfeld als 65° „unsinnig” sei, ist unsinnig. Ich würde das Urteil „unnötig” akzeptieren, aber für ein Urteil „unsinnig” sehe ich keinerlei Rechtfertigung. Ich kann mir vielmehr eine Reihe von Anwendungen vorstellen, in denen noch größere scheinbare Sehwinkel um 70° oder gar bis 80° von Vorteil sind, auch wenn ich dann nicht unbedingt optimale Randschärfe fordern, aber wenn sie möglich wäre, dennoch gutheißen würde.
Die Aussage „Die besonders bei Leica und Zeiss bemerkbare Randunschärfe garantiert einen einheitlichen Abbildungsmaßstab über das ganze Gesichtsfeld” ist nachweislich falsch. Denn die mir bekannten Leica-Ferngläser (die ich übrigens sehr schätze und keinesfalls schlechtreden will), verzeichnen alle mehr oder weniger deutlich kissenförmig, und das heißt nichts anderes, als daß der Abbildungsmaßstab im Randbereich um ca. 5% bis 8% (ich schätze nur, es sind also keine verbindlichen Meßwerte) größer ist als im Zentrum, so daß von dem von Ihnen behaupteten einheitlichem Abbildungsmaßstab über das ganze Gesichtsfeld absolut nicht die Rede sein kann. Dagegen sind beispielsweise das Porrofernglas Nikon 12x50 SE, das Dachkantfernglas Nikon 8x32 HG sowie das Dachkant-Kompaktfernglas Nikon 8x20 HG nahezu verzeichnungsfrei und zugleich sehr randscharf. In diesem Falle ist also im Widerspruch zu Ihrer Aussage hohe Randschärfe mit annähernder Verzeichnungsfreiheit kombiniert!
Zu Ihrem letzten Satz kann ich nichts sagen, weil ich nicht weiß, was Sie unter „progressivem Skalenfehler” verstehen. Ich vermute zwar, daß Sie damit Verzeichnung meinen, aber weil das nicht sicher ist, klammere ich diesen Punkt lieber aus.
Aber nochmals zurück zu der von Ihnen behaupteten Übelkeit, mit der Sie wohl in heftiger Übertreibung ein leichtes Schwindelgefühl meinen, das mancher Beobachter beim Schwenken mancher Ferngläser feststellen kann. Das kommt keineswegs von hoher Randschärfe, sondern hat mit dem sogenannten Globuseffekt zu tun, der wegen der unnatürlichen Perspektive beim Blick durchs Fernglas auftritt: Das Fernglas zeigt die Tiefenstaffelung aufgrund des Vergrößerungseffektes quer zur optischen Achse bei gleichzeitiger Stauchung der Entfernungen längs der Achse so, daß man meint, eine Theaterkulisse zu sehen (das ist zunächst der sog. Kulisseneffekt). Wenn man nun während des Beobachtens das Fernglas schwenkt, dann erfolgt die Relativbewegung von Vorder- und Hintergrund aufgrund dieser Stauchung völlig anders, als man es bei Betrachtung ohne Fernglas aus einer der Vergrößerung umgekehrt proportionalen Entfernung erwartet. Dieser der in Jahrzehnten erworbenen Seherfahrung widersprechende Effekt führt im Gehirn zu Irritationen. Das Gehirn schafft sich dann eine Art Hilfskonstruktion, um diesen seltsamen Effekt plausibel zu machen: es stellt sich vor, daß die im Fernglas beobachtete Landschaft beim Schwenken auf einer Kugel (deshalb die Bezeichnung „Globus”-Effekt) abgerollt wird. Für die Fernglaskonstrukteure ergibt sich folgende Lösungsmöglichkeit: Sie haben festgestellt, und das läßt sich sogar auch geometrisch nachvollziehen, daß eine gewisse, nicht zu große kissenförmige Verzeichnung diesem Globuseffekt und somit auch dem bei manchen Beobachtern auftretenden leichten Schwindelgefühl entgegenwirkt. Leica gehört zu den renommierten Fernglasherstellern, die dem Globuseffekt relativ große Bedeutung beigemessen und deshalb bei ihren Ferngläsern immer eine merkliche kissenförmige Verzeichnung zugelassen haben. Allerdings hat Leica in jüngster Zeit aufgrund von Klagen mancher Kunden über die deutliche Verzeichnung (vor allem seit bei uns die Nikon-HG-Gläser bekannter geworden und zum Vergleich herangezogen worden sind) dieses Konzept ein wenig korrigiert: die neuesten Okularkonstruktionen (z.B. beim Ultravid 10x42) weisen wieder etwas geringere kissenförmige Verzeichnung als die älteren Konstruktionen auf.
Walter E. Schön