Es stimmt nicht, daß man mit zwei oder maximal Parametern (oder „als bekannt vorausgesetzten Begriffen“, wie Sie schreiben), auskommt. Der Visus kann nicht allein anhand einer Winkelauflösung definiert werden, sondern erfordert auch noch die Festlegung weiterer Parameter wie z.B. die Art der bei der Messung zu benutzenden Optotypen (Prüffiguren), des Kontrastes, der Beleuchtungsstärke, der Größenabstufungen, der Anzahl und Auswertung der Prüfungen. Sie, lieber Herr Champollion, neigen immer sehr schnell dazu, nach eigenem Gutdünken einfach vorschnell etwas festzusetzen - ob es nun die Existenz oder Nicht-Existenz deutscher Wörter oder die Anzahl der für eine Definition erforderlichen Parameter ist.
Bevor ich zum Visus kommen, dazu ein einfaches, Ihnen sicher bekanntes Beispiel aus der Physik. Sie wissen, daß die Masseneinheit Kilogramm ursprünglich als die Masse von 1 cdm Wasser definiert worden war. Das wäre die Abhängigkeit von zwei Parametern, nämlich einer zuvor schon bekannten Volumeneinheit und einem bekannten Material. So aber reicht das noch nicht für die in der Technik und Wissenschaft benötigte Genauigkeit. Man muß also auch noch weitere Parameter angeben: Das Wasser muß eine bestimmte Temperatur haben (3,98°C), weil es sich bei höherer wie niedrigerer Temperatur ausdehnt, und es muß ein bestimmter Druck herrschen (Normaldruck auf Meereshöhe), weil nicht nur Gase, sondern auch Flüssigkeiten und feste Stoffe (wenn auch nur minimal) bei erhöhtem Druck ein kleineres Volumen annehmen. Wenn jemand die Temperatur- und Druckbedingung unberücksichtigt ließe und z.B. 96°C und einen Luftdruck wie auf Mount-Everest-Höhe wählte (wo Wasser schon bei viel niedrigerer Temperatur als 96°C siedet, also verdampft), dann käme er zu einer sehr viel geringeren, ja geradezu zu einer verschwindend geringen Masse für 1 kg! Würde man auf diese Weise heute noch die Masseneinheit Kilogramm definieren, müßte man außerdem noch definieren, wie das Wasser beschaffen sein muß, also z.B. chemisch reines H2O ohne darin gelöste Mineralien und andere Stoffe (z.B. Sauerstoff, CO2 usw.). Aber man macht es heute anders, nämlich mit Hilfe eines in Paris gelagerten „Ur-Kilogramms“ aus einer Platin-Iridium-Legierung und darauf präzise (soweit beim Stand der Meßtechnik möglich) abgeglichenen Kopien, z.B. für Deutschland in Braunschweig.
Eine vollständige Definition zum Visus zu geben, habe ich nicht die Zeit. Aber zunächst ist der wichtigste Punkt, daß es sich um eine Verhältniszahl handelt, nämlich zwischen der (auf Basis von Messungen an zahlreichen Prüfpersonen willkürlich als „glatte“ Zahl festgesetzten) Norm-Winkelauflösung 1‘ (= 1 Winkelminute) und der ebenfalls in Winkelminuten anzugebenden angulären Sehschärfe der Prüfperson. Es ist also der dimensionslose Kehrwert der Winkelauflösung der Prüfperson.
Da Visus 1 gemäß dieser Definition kein Maximal-, sondern ein Durchschnittswert ist, wäre die Schlußfolgerung
Visus 1 = 100% Sehschärfe
irreführend, auch wenn sie so immer wieder von Nichtfachleuten zu hören oder zu lesen ist.
Wichtig ist ferner, daß zur Genauigkeitssteigerung bei der Ermittlung des Visus nicht das richtige Erkennen eines Sehzeichens entsprechender Größe reicht, sondern eine Trefferrate von 56,25% (= Wendepunkt der Trefferraten-Kurve) im sog. Forced-Choice-Verfahren (= erzwungene Aussage auch bei unsicherem Erkennen) erforderlich ist. Ferner sind in der Norm Grenzen für die Beleuchtungsstärke bzw. Leuchtdichte angegeben, weil je nach Helligkeit der Pupillendurchmesser sich ändert und damit auch das Ausmaß an Aberrationen des Auges sowie auch der Schärfentiefe.
Klein-Fritzchen will es immer einfach: ja oder nein, schwarz oder weiß, maximal 2 bekannte Parameter. Aber das Leben ist komplexer, als daß sich eine solche Erwartung immer erfüllen ließe.
Für umfassende Information zum Thema Visus sollten Sie sich bei Interesse die Norm EN ISO 8596 beim Beuth-Verlag in Berlin bestellen. Sie werden dann sehen, daß die Verfasser sich nicht mit einer, wie Sie ex cathedra verkünden, „schwammigen“ Beurteilung begnügt haben.
Walter E. Schön