Ihre Hartnäckigkeit bei der Suche nach dem Haar in der Suppe bringt mich noch zur Verzweiflung. Ich versuche nun ein letztes Mal, zu diesem Thema bei Ihnen Klarheit zu schaffen:
Ich hatte schon geschrieben, daß es eine sehr präzise Definition bzw. Meßvorschrift für den Visus in der von mir genannten ISO-Norm gibt. Soweit es den rein physikalischen Teil betrifft, ist die Sache also durchaus genau quantifizierbar und alles andere als schwammig.
Anders wird es erst, und das hat nun absolut nicht mit der „Definition“ zu tun, wenn bei der Bestimmung des Visus einer Prüfperson die Physiologie (der Wahrnehmung) ins Spiel kommt. Man kann nämlich dann, wenn die Prüfperson unter den exakt vorgeschriebenen Beobachtungsdedingungen auf die vorgeschriebenen Landolt-Ringe schaut, nicht irgendein Meßgerät an den Sehnerv oder ans Gehirn anschließen und an einem Zeigerausschlag ein exaktes und jederzeit exakt reproduzierbares physikalisches Meßergebnis ablesen, sondern man muß (so ist es in der genannten Norm vorgeschrieben) die Prüfperson fragen, in welche der acht möglichen Richtungen die offene Stelle jedes einzelnen Landolt-Rings zeigt, und dabei MUSS die Prüfperson auch dann, wenn sie sich darüber nicht sicher ist, eine (dann evtl. zufällige) Richtung angeben - deshalb die Bezeichnung „forced choice“, also „erzwungene Entscheidung“ für dieses Verfahren. Darüber hinaus wird eine Reihe von Landolt-Ringen bestimmter Größe (Sehwinkelgröße) nicht erst dann als „erkannt“ gewertet, wenn die Orientierung ALLER Landolt-Ringe richtig angegeben wurde (so war es früher einmal), sondern schon dann, wenn die Trefferrate bei 56,25% oder höher liegt*. Die „krumme“ Zahl 56,25% hat sich nicht ein auf Skurrilität bedachter Bürokrat ausgedacht, sondern sie ergibt sich mathematisch aus der Lage des Wendepunktes in der Trefferratenkurve. Weitere Details würden hier zu weit führen. Wesentlich ist nur, daß mit der in das Ergebnis der Messung eingehenden SUBJEKTIVEN Beurteilung durch die Prüfperson eine gewisse, kaum (oder nur statistisch) kalkulierbare Ungenauigkeit ins Meßergebnis eingeht, wenn Sie wollen, eine gewisse „Schwammigkeit“. Aber das ist keine Schwammigkeit der Definition des Visus, sondern eine Folge der nicht exakt bestimmbaren und nicht exakt reproduzierbaren physiologischen Einflüsse bei der Bestimmung des Visus. Hinzu kommt noch, daß das Ergebnis auch von der „Tagesform“ der Prüfperson abhängt. Manchen Tag sieht die Prüfperson klarer, manchen weniger klar. Einen wesentlichen Einfluß hat dabei die ihrerseits von vielen anderen Parametern abhängige Konzentrationsfähigkeit der Prüfperson und ihre Wachheit bzw. Müdigkeit. So ergeben sich auch am gleichen Tag morgens, mittags vor dem Essen, mittags nach dem Essen oder Abends etwas verschiedene Resultate.
Sie sehen also, daß man unterscheiden muß zwischen einerseits der Exaktheit der physikalischen DEFINITION des Visus und der Methode zu seiner Bestimmung und andererseits der (Nicht-)Exaktheit bei der BESTIMMUNG aufgrund physiologischer Unwägbarkeiten.
Ich hoffe, sie können sich nach dieser Erläuterung damit einverstanden erklären, daß die Definition der Visus keineswegs „schwammig“ ist und sich auch nicht auf nur 2 oder maximal 3 Parameter zurückführen läßt.
Walter E. Schön
* Die Vorschriftenänderung von „alle“ auf „Trefferrate 56,25%“ hat dazu geführt, daß nach diesen neueren Vorschrift höhere Visuswerte festgestellt werden als früher. In Einzelfällen wurden sogar Visuswerte knapp unter 3 ermittelt. Leider hat sich die neue Vorschrift aber noch nicht bis zu allen Augenärzten und Augenoptikern herumgesprochen, und so kommt es vor, daß manche immer noch wie früher nur die richtige Angabe aller Landolt-Ringe einer Größe als „richtig erkannt“ werten und daher zu niedrigeren Visuswerten kommen. Man sollte daher, wenn man als Fernglasbeobachter seinen Visus bestimmen läßt, den Augenarzt oder Augenoptiker fragen, ob er noch nach der alten („alle“) oder schon nach der neuen Vorschrift („56,25%“) prüft. Sollte er noch nach der alten Vorschrift prüfen, muß man dann aber leider damit rechnen, daß sich danach das Gesprächsklima merklich abkühlt.