Sie glauben natuerlich, Ihre Kunden seien gebildet. Wenn aber auch nur einer von denen wuesste, was ich bedauerlicherweise zu wissen gelernt habe, dann wuerde er sich gegen ein Dachkant und fuer ein Porro entscheiden!
Die meisten Leute glauben tatsaechlich, ein Dachkant-Fernglas sei elegant. Wenn sie nur die geringste Ahnung davon haetten, was fuer ein Scheusal sich hinter der schicken Verkleidung verbirgt, dann wuerde sich jeder, der noch einen Funken humanitaeren Anstands besitzt, angesichts eines Dachkantglases voller Ekel und Abscheu von dannen machen. Dennoch wuerde ich nicht einmal meinem aergsten Feind wuenschen, die Geschehenisse, die mich dazu gebracht haben, das Dachkantfernglas aus tiefstem Herzen zu verachten, am eigenen Leibe erfahren zu muessen.
Im Rahmen meiner Arbeiten zum Fernglasbuch hatte ich vor wenigen Wochen das zweifelhafte Vergnuegen, mich mit den Umkehrsystemen auseinandersetzen zu muessen. Dazu war es natuerlich erforderlich, die wichtigsten Systeme zunaechst einmal durchzurechnen - schliesslich brauchte ich ja ein paar Zeichnungen davon mit den Lichtstrahlen etc. Ein solches Raytracing ist im Grunde eine recht intime Angelegenheit: Man nimmt den Strahl, faedelt ihn durch bis zur naechsten Glasflaeche, wendet dort das Brechungs-/Reflexionsgesetz an, und weiter geht's. Was ich dabei im Falle des Schmidt-Pechan Prismas - immerhin das bei weitem populaerste Umkehrsystem - erlebt habe, das laesst sich am ehesten mit den Worten Walter Kurtz's in "Apokalypse Now" umschreiben, als er sagte:
"Ich habe das Grauen gesehen.
Das Grauen hat ein Gesicht, und mit dem hast Du Freundschaft zu schliessen.
Horror und moralischer Terror sind Deine Freunde.
Denn, sind sie es nicht, dann sind es Feinde, die Du fuerchten wirst."
Ein Lichtstrahl, der durch das zunaechst noch einladend wirkende Fenster des Prismeneingangs faehrt, der knallt bereits bei der zweiten Reflexion mit voller Wucht und nahezu frontal auf eine Wand. Allein diesen Vorgang zu zeichnen verursacht physischen Schmerz, die Berechnung jedoch ist die reinste Folter. Der arme Lichtstrahl moechte natuerlich auf dem kuerzesten Wege raus - kein Wunder, nach dieser Misshandlung. Deshalb haben die Ingenieure schleunigst und mit viel Muehe eine Spiegelschicht angebracht, um den Strahl aufs Brutalste zurueck in das Prisma zu schleudern. Dort wird er dann kreuz und quer durch den Glasblock gejagt, bis er an der Dachkante ankommt.
Die Dachkante wirkt schon von weitem wie ein Fremdkoerper - wie etwas, das der Erfinder in letzter Minute noch in das Glas fraesen musste, nachdem er mit Schrecken bemerkt hatte, dass das Prisma seinen Auftrag, das Bild umzukehren, erst halb erfuellt hatte. An dieser Kante wird das Lichtbuendel auf widerliche Weise aufgeschlitzt und spaeter notduerftig und (phasen-)verschoben wieder zusammengeflickt. Da das kein Lichtstrahl ohne bleibende Schaeden ueberlebt, kommt dann die Phasenkorrektur als Pflaster oben drauf. "Korrektur" ist das richtige Wort, denn hier wird versucht, noch einmal zurechtzubiegen, was eigentlich schon als Altmetall auf den Schrott gehoert. Eine solche Phasenkorrektur ist daher auch nie vollstaendig, es gibt nur immer mehr Schichten, von denen jede neue die Korrekturen der Vorgaengerschicht korrigiert. Dass die Dachkante auf hoechst unaesthetische Weise mitten durch das Strahlenbuendel geht, und beim Zerschneiden desselben die Lichtfetzen wie Blut in beide Richtungen senkrecht zur Kante davonstieben und an hellen Lichtern dann die bekannten "Spikes" erzeugen, laesst mich immer wieder aufs Neue erschaudern.
Nimmt man sich stattdessen ein Porro-Umkehrsystem vor, dann macht es zap-zap-zap-zap und der Lichtstrahl ist durch. Jede Reflexion erfolgt sanft, unter schraegem Winkel mit Totalreflexion, der Lichtstrahl wird ein wenig gekitzelt und aendert bereitwillig seine Richtung, ohne Gemetzel, ohne Verluste. Das ist Harmonie, das ist Musik. Ein Schmidt-Pechan macht das Geraeusch eines Frachters, der auf Grund laeuft, ein Porro - das ist Mozart!
Holger Merlitz