Sehr geehrter Herr Müllers,
Ich bin mir zwar nicht ganz sicher, aber da es für einen Aprilscherz noch zu früh ist, nehme ich an, Sie meinen das Ganze halbwegs ernst. Sie glauben also, dass der Normalnullfernglasbeobachter ein rechtshändiges, bequemlichkeitsliebendes, Änderungen scheuendes Gewohnheitstier ist, das auschließlich nur mit einem Finger, und zwar dem Zeigefinger, fokussierend fast nur fliehende Objekte beobachtet, und dass man diesem Nutzer keine Anpassung an kleine Eigenheiten eines Glases abverlangen darf. Wenn es so wäre, fände ich diese Vorstellungen nicht nur ziemlich eingeschränkt, sondern auch seltsam anmaßend und einseitig, fast schon, pardon etwas (alters-?)starrsinnig.
Ich kann nur sagen, dass es genau die individuellen Eigenheiten eines Glases sind, die ich sehr schätze, und die den verschiedenen Modellen doch so etwas wie Charakter verleihen. Mein Nikon Taschenglas hat eine objektivnahe Fokussierung, die nicht mit dem Zeigefinger, sondern mit Mittel- oder Ringfinger bedient wird. Das ist nicht nur Gewohnheitssache, sondern bei einem so kleinen Glas viel angenehmer, wie ich gelernt habe, weil es das Wackeln beim Fokussieren wesentlich reduziert. Ganz anders mein Chinaporro, bei dem ich auf seiner andersherum laufenden, breiten und zum Glück sehr leichtgängigen Fokussierwalze bequem mit Zeige- und Mittelfinger spazierengehend fokussieren kann. Das macht die Sache trotz seiner hohen Vergrößerung angenehm schnell und reduziert ebenfalls das Wackeln, weil nicht immer ein und derselbe Finger auf und abgesetzt werden muß und der Fokussiervorgang dadurch ohne Pausen wunderbar kontinuierlich wird. Solche Unterschiede machen doch kein Problem, sie sind Unterscheidungsmerkmale und können sogar spezielle Vorzüge sein. Kurzum, ich bin der Meinung, dass man einem guten Fernglas durchaus die Ehre antun sollte, sich auf seine mechanischen Eigenheiten einzustellen und daran individuell anzupassen, weil Individualität auch Freude machen kann.
An eine Vorzugsrichtung beim fokussierenden Beobachten vom Beobachter weg und die Sache mit mehr Feinfühligkeit beim Beugen eines Zeigefingers glaube ich, so generell wie Sie das behaupten wollen, schon gleich gar nicht. Die Mehrheit wird kaum ausschließlich fluchtbereite Singvögel oder Kleintiere im Nahbereich beobachten, die Beobachtungsziele dürften genauso heterogen sein wie Ferngläser und ihre Nutzer selbst. Die taktilen Unterschiede beim Fingerbeugen und -strecken die Sie bemerkt haben wollen halte ich, wie alles andere zuvor, leidiglich für Ihre individuellen Eindrücke, die deshalb nicht so zu verallgemeinern sind, wie Sie es sich offenbar vorstellen.
Was die von Ihnen nicht nur erwünschte, sondern sogar geforderte Vereinheitlichung der Drehbewegung angeht, bin ich aber nicht nur der Heterogenität von Nutzern, Beobachtungsobjekten und Gläsern wegen dagegen. Vereinheitlichungen und Gewohnheitstrott mögen zunächst bequem erscheinen. Neurowissenschaften und Neurologen aber - und das ist kein Witz - empfehlen ziemlich genau das Gegenteil, in moderatem Umfang, versteht sich. Also z.B. gewohnheitsmäßige Alltagshandgriffe gelegentlich bewußt mit der anderen Hand auszuführen, sich z.B. ab und zu mit der anderen Hand zu rasieren etc. Denn das hält die Kommandozentrale und ihre Verbindungen zum Bewegungsapparat jung und in Schwung und bewahrt dem ganzen System die nötige Plastizität. Es beugt der schleichenden Versteinerung, der Vergreisung vor. Und deshalb ist andersherum alles andere als falschherum. Es ist belebend. Und wenn Sie das selbst nicht so empfinden und lieber Ihren Gewohnheiten fröhnen möchten, dann bleiben Sie halt ausschließlich bei "richtig"-drehenden Ferngläsern. Dürfte doch kein Problem sein, da die meisten Spitzengläser eh so ausgelegt sind. Aber gehen Sie nicht so weit, allen denselben langweiligen Einheitsdreh abzuverlangen. An andersdrehenden Gläsern ist nichts negativ oder gar falsch. Eher im Gegenteil. Es sind richtig wirksame Anti-Aging-Produkte!
Vitalisierende Gruesse,
besonders von meinem andersdrehenden Porro
4-mal bearbeitet. Zuletzt am 17.03.09 00:28.