Keine Frage, dass es Digitalgläser geben wird. Schon jetzt werden digital aufgezeichnete Bilder durch Bildverarbeitungssoftware so gut aufbereitet, dass quantitative und qualitative Analysen möglich sind und Feinheiten liefern, die dem bloßen Auge verborgen bleiben. Manche der „wilden Sachen“ sind in Vorstufen in Wissenschaft und Forschung längst Realität. Eine 3D-Darstellung macht keine Probleme, eher im Gegenteil, weil auch der Augenabstand virtuell verändert werden kann. Schon heute gibt es 3D-Kopfbrillen, die etwa die Qualität des elektronischen Suchers der G1 erreichen, pro Auge wohlgemerkt, und mit denen virtuelle Umgebungen in Echtzeit simuliert werden können. Sie können sich damit „frei“ (einstweilen noch verkabelt und /oder Laptop auf dem Rücken) im Raum bewegen und dabei simuliert eine Software die zu jeder ihrer Kopf- und Körperbewegungen passenden Bilder ohne wahrnehmbare Zeitverzögerung. In virtuellen Welten gibt es gefahrloses Balancieren auf schmalen Brettern über Abgründe, Orientierungssuche in simulierten Wäldern, was auch immer. Die Leistungsfähigkeit unseres Wahrnehmungsapparates wird mit all möglichen Szenarien längst damit erforscht, ganz neue Steuerungen für Geräte und Maschinen werden erprobt. Hochauflösende Monitore mit einer Bilddynamik von 1:50000, immerhin der Hälfte von der des Auges, gibt es auch schon. Auch wenn sie dabei noch soviel Strom verbrauchen wie ein Backofen, wird es wohl nur eine Frage der Zeit sein, bis Teile dieser Technologien den Massenmarkt erreichen werden.
Herrn Schöns pessimistische Einschätzungen zu Sensorqualitäten und nötigem Aufwand scheinen mir zu sehr aus gegenwärtiger Sicht betrachtet. Mit leistungsfähigeren Sensoren und Monitoren können auch die Anforderungen an die nötigen Objektive und Okulare immer kleiner werden, und wenn man an Moores Gesetz denkt (doppelte Computerleistung alle anderthalb Jahre), dann ist ein Faktor 36 in etwa 10 Jahren gut möglich und nicht utopisch. Bis die Dinge wirklich ausgereift sein werden mag es länger dauern. Bei solchen Zukunftsprognosen werden stetige Entwicklungen vorausgesetzt, die Vergangenheit wird linear hochgerechnet. Es wird auf den enormen elektronischen Aufschwung der vergangenen Jahrzehnte verwiesen, und aus dem stetig sich beschleunigenden Tempo auf ein immer weiter so geschlossen. Von möglichen Nichtlinearitäten ist selten die Rede, die sind nicht gut fürs Geschäft.
In welchem Tempo die Digital-Technik wirklich fortschreiten wird ist aber zunehmend schwer vorherzusehen. Zum einen war schon vor etlichen Jahren vorübergehend eine Barriere der Miniaturisierung bei den Computerchips in Sicht, weil die Auflösungsgrenze der Mikroskopobjektive für die herkömmliche Chip-Lithographie nahe schien. Erst überraschende Weiterentwicklungen schoben sie hinaus, aber inzwischen muss man allmählich daran denken, dass sich manche Chip-Strukturen irgendwann nicht mehr werden verkleinern lassen, weil mit zu wenigen Atomlagen die Funktionen nicht mehr gewährleistet sind. Kleinere Strukturen bedeuten immer höheren Kühlungsbedarf, schon heute werden auf den winzigen Chipflächen vergleichsweise gigantische Leistungen umgesetzt, vielleicht setzt der nötige Aufwand also doch irgendwann Grenzen, wenn es um die Portabilität und um dauerhafte Zuverlässigkeit geht.
Zum anderen treten aber zunehmend ganz anderen Grenzen zu Tage, und von denen wird nicht gern geredet. Die Elektronikbranche hat merkwürdigerweise nicht das Image, zu den großen Umweltsündern zu gehören. Man sieht keine rauchenden Schlote, hört nicht viele Geräusche bei der Chipproduktion, also kann es so wild nicht sein. Die Realität sieht ganz anders aus. Die für die Ätzverfahren nötigen Chemikalien gehören zu den aggressivsten überhaupt (z. B. Flusssäure), dotiert wird mit Schwermetallen, Blei, Arsen, Cadmium, Quecksilber. Die kurzen Lebenszyklen elektronischer Produkte lassen weltweit enorme Mengen an komplexem hoch schadstoffbelasteten Müll anfallen, für den es noch immer keine vernünftige Entsorgungslösungen gibt, von wirklicher Kreislaufwirtschaft ist man weit entfernt. Die Metalle sind in den Platinen so fein verteilt, dass eine Aufarbeitung oft viel zu aufwändig wäre, und teure Handarbeit erforderte. Bis vor einigen Jahren wurde Computerschrott in Deutschland hauptsächlich in Müllverbrennungsanlagen entsorgt. Als reihenweise Mitarbeiter erkrankten und man die unangenehmen Schadstoffbelastungen der vermeintlich gut gefilterten Abgase und die Schlacken näher untersuchte, wurde die Verbrennung eingestellt, die Mischung aus Dioxinen, Schwermetallen und dergleichen stellte vor unlösbare Probleme. Die Anerkennung von derart bedingten Berufskrankheiten zieht sich hin.
Heute wird granuliert. Das chemisch komplexe Granulat wird bei uns großzügig für den Straßenbau freigegeben, wenn Sie das nächste Mal ihren Verbrennungmotor über die Autobahn jagen, denken Sie nicht nur an den Auspuff und daran, dass Sie pro Kilometer einen Kubikmeter Luft verbrauchen. (Rund sechs Prozent aller Todesfälle in Westeuropa werden durch Luftverschmutzung verursacht, die Hälfte davon allein durch den Autoverkehr, Quelle The Lancet) Denken Sie auch mal an den Computerschrott, über den sie gerade fahren, die komplexe granulierte Elektronik-Schadstoffmischung in der Piste unter Ihnen, aus der so manches im Laufe der Zeit irgendwann im Grundwasser ankommen wird und dann über kurz oder lang auch in Ihrem Körper, oder dem Ihrer Enkel. In Deutschland werden täglich 2 Fußballfelder Fläche versiegelt. Weltweit schwinden Flächen, die eigentlich zunehmend dringend für den Anbau von Nahrungsmitteln oder als natürliche Umweltfilter gebraucht würden. Es geht auch anders, große Industrienationen wie die USA oder Australien verschiffen ihren Elektronikschrott kurzerhand in arme Entwicklungsländer, wo mittellose Menschen ihre Gesundheit und Umwelt damit ruinieren, dem Giftmüll mit primitiven Methoden etwas Brauchbares zu entziehen. Von den dort vergifteten Flüssen und Abwässern, gelangen die Schadstoffe in die überfischten Meere und damit über den Nahrungskreislauf oder die Atmosphäre zu uns zurück.
Alles kein Problem, wenn heute schon toxikologische Grenzwerte früherer Tage in manchen Bereichen erreicht werden, kommt der EU-Vertrag zur Hilfe. Was mit Hilfe der Politik den Bürgern schmackhaft gemacht werden soll, ist eine in weiten Teilen von der Wirtschaft gern genutzte Aufweichung von Umweltstandards. Dank EU-Recht und Herkunftslandprinzip gelten faktisch in Deutschland so wie in jedem anderen EU-Land neuerdings 26 verschiedene Rechtsordnungen. Produkte aus einem EU-Land, das höhere Schadstoffbelastungen toleriert als die Bundesrepublik bisher, müssen überall in der EU frei verkäuflich sein, also werden, um keine Wettbewerbsnachteile entstehen zu lassen, reihenweise Grenzwerte nach oben verlegt, nicht selten um das 1000-fache. Das alles geschieht, ohne die Öffentlichkeit groß in Kenntnis zu setzen, womit die Frage, ob uns die schöne neue Welt all das wirklich wert ist, den Konsumenten möglichst erspart bleiben soll. Die hässliche Kehrseite wird vergraben, verschifft, verdrängt. Die Preise dürfen nicht die Wahrheit sagen, das wäre schlecht fürs Geschäft. Die für eine Umsteuerung nötigen Rückkopplungen werden ausgehebelt, wo es geht. Augen zu.
Die Energieversorgung ist schon bei den heutigen Digitalkameras ein lästiges Ärgernis. Die Akkus müssen geladen werden. Solarzellen brauchen knappes Indium, Akkus halten nur begrenzt, für ihre Kondensatoren sind seltene Metalle, Kobalt, Titan und Tantal nötig. Coltanerz, aus dem Tantal gewonnen wird, gibt es nur an wenigen Stellen auf der Welt. Dort schuften Menschen unter erbärmlichen Bedingungen um 10% der Weltbevölkerung ihr elektronisches Wohlstandsleben zu ermöglichen. Die Sklaverei ist längst nicht abgeschafft, sie ist nur mit modernsten Methoden verschleiert. Der Knüppel und die Ketten wurden durch Geld ersetzt, Geschäft ist Geschäft, Freiheit und fairer Handel sind dort nur Gerede. Kupfer, unentbehrliches Leitermaterial, wird vermutlich früher ausgehen als Erdöl, in ein paar Jahrzehnten wird es eng. Wasser, für unser auch elektronisch luxuriöses Leben in riesigen Mengen nötig, wird schon dieser Tage in mehr und mehr Regionen nicht nur dreckiger, sondern zunehmend knapp.
Wie viele Vogelarten wird es noch geben, wenn die ultimativen digitalen Beobachtungsgläser auf den heiligen Markt kommen, um perfekt gerüstet auch den letzten Ignoranten per GPS mit GOTO die nächste Kohlmeise ins Visier bringen zu können. Über grandiose Zukunftsfantasien einerseits und kleinliche Wohlstandssorgen andererseits unterhalten wir uns gern, auch darüber, ob das Klima demnächst unseren Komfort hier vor Ort beeinträchtigen könnte. Die weltweiten Konsequenzen unseres Tuns, die Situation der unfreien Menschen am anderen Ende der Welt, deren minder bezahlte Drecksarbeit unseren Luxus erst ermöglicht, interessieren nur wenige. Aber der Dreck wird uns einholen, alles nur eine Frage der Zeit.
Man muß nicht unbedingt Filme wie „Let’s make m oney“ oder „We feed the world“ gesehen haben um sich klar zu werden, dass es nicht ewig so weitergehen kann. Trotzdem wird überall so getan. Für die Forschung werden neue Hochleistungsrechner für komplexe Simulationen angeschafft und installiert. Es werden gigantische zeitfressende Klimasimulationen durchgerechnet – nicht etwa für die meteorologische Forschung oder für die Planung neuer effizienter regionaler Kreislaufwirtschaftssysteme zur Verbesserung unserer natürlichen Lebensqualität. Nein nein, zur Verbesserung der künstlichen Lebensqualität in den Innenräumen von Luxuslimousinen, zur Optimierung von deren Klimaanlagen. Den überwiegenden Löwenanteil der teuren Rechenzeit kaufen profitable Wirtschaftszweige für Projekte, mit denen man der solventen Kundschafte den Hintern noch schöner vergolden möchte.
Was das alles mit Digitalferngläsern zu tun hat? Konventionelle Ferngläser gehören zu den wenigen sehr langlebigen Produkten. Auch wenn ich Ihre Ökobilanz nicht kenne würde ich vermuten, dass sie so schlecht nicht ausfällt. Kommt der Digitalhype auch im Fernglas an, dann dürfte es damit vorbei sein. Alle paar Jahre ein Austausch auf die dann neue Generation, der Giftmüll wird weiter wachsen. Wollen wir wirklich alles was machbar ist, selbst da, wo es schon ausgereifte Produkte oder gute und effiziente weil resourcenschonende langlebige Lösungen gibt? Nur weil es neue aber fragwürdige Vorteile bringt, selbst wenn es uns mehr und mehr die natürliche lebenswerte Umwelt kostet? Wenn sie kaputt geht, simulieren wir sie uns eben beobachtend schön, Second Life lässt grüßen. Der Stern titelt diese Woche mit einem idyllischen Photo der tollen Antarktis, dem man ansieht wie zurechtfrisiert es ist. Wir machen uns die Welt, wie sie uns gefällt. Warum die Vögel nicht gleich simulieren, statt sie aufwendig zu beobachten.
Nichts gegen den Fortschritt, ganz im Gegenteil, aber ich fände es besser, endlich zu beginnen, für den Massenmarkt mit Augenmaß und zielgerichtet möglichst langlebige umweltverträgliche Produkte zu entwickeln, die in einer Kreislaufwirtschaft erzeugt werden. Aber wahrscheinlich wird die Brainpower, die momentan längst für solche Dinge nötig wäre, erst dann auf diese wirklich bedeutenden Zukunftsfelder gelenkt, wenn wir auf einem großen halbvertrockneten, halb überschwemmtem Planetenmüllhaufen versuchen müssen, in mieser Luft bei schlechtem Wetter zu überleben. Digitalfernglasbrillen können uns dann natürlich die Nahrungssuche erleichtern und den Dreck, den wir dann futtern müssen, vorher noch schön färben. Und die schlauen Late-Adopter werden einfach so lange warten, bis die Technik so ausgereift ist, dass man Digitalgläser essen kann. Mahlzeit!