Lieber Herr Schoen,
seit furchtbar langer Zeit sind Sie der erste Mensch, der mich wieder mal naiv nennt. Danke dafuer, denn Naivitaet hat fuer mich etwas von kindlich offener Lebensfreude, und ich hatte schon das ungute Gefuehl, dass mir diese Empfindung durch meine berufliche Praxis abhanden gekommen ist. Das meine ich ernst!
Ich schaetze Ihre Beitraege sehr und habe Hochachtung vor Ihrem Kenntnisreichtum. Ihre Ansicht zu Herstellkosten teile ich dennoch nicht.
Ich moechte auch gar nicht mit Ihnen streiten; einmal davon abgesehen, dass das Thema wenig mit "Tagbeobachtung" zu tun hat.
Nur soviel: Wenn ich mich nicht gerade in diesem Forum tummele, arbeite ich als Geschaeftsfuehrer Produktion und Logistik in einem deutschen Konzern. Das macht mich zum Thema Fernglaeser keinen Deut (duit...) schlauer, die Inhalte meines Studiums und meiner Promotionsarbeit habe ich auch laengst vergessen. Wenn es aber eine Diskussion gibt, zu der ich moeglicherweise etwas Konstruktives beitragen kann, dann darueber, was Herstellungskosten sind und welchen Einfluss diese auf den Endpreis eines Produktes haben. In meiner Funktion arbeiten u.a. auch Controlling und Einkauf fuer mich, so dass mir auch alle zugrundeliegenden Berechnungen offenliegen. Lassen Sie mich mein Coming Out mit dem Hinweis abschliessen, dass ich einem frueheren Leben fuer die Markteinfuehrung aller neuen Produkte eines grossen Unternehmens verantwortlich war. Seit dieser Zeit weiss ich auch ziemlich genau, wie Marketing und Entwicklung arbeiten.
Ich mache den Job schon ein paar Jahre. In dieser Zeit ist mir nicht ein Produkt begegnet, bei dem die Gestehungskosten einen signifikanten Einfluss auf den Verkaufspreis haetten.
Was nicht bedeutet, dass sie keine Relevanz haetten, das Gegenteil ist der Fall. Aber das waere in etwa so, als wuerde der Schwanz mit dem Hund wedeln.
Die einzige mir bekannte Ausnahme sind Vertraege auf "Cost of Goods plus X"-Basis, wie sie z.B. in der Automobilbranche praktiziert werden. Bei diesem Sonderfall legt der Lieferant seinem Kunden gegen eine vertraglich zugesicherte Marge seine Herstellkosten offen. Und hat dann Horden von Reengineering Teams des Kunden am Hacken, die seine Prozesse auf Optimierungpotential durchforsten. Siehe Beispiel Lopez bei VW.
Wie laeuft es denn normalerweise ab?
Am Anfang steht eine Produktidee. Anhand von Marketingstudien, die das Marktpotential, das kompetetive Umfeld, etc., abschaetzen, wird evaluiert, ob sich die Idee gewinntraechtig vermarkten laesst. Ist das Resultat vielversprechend, wird ein Projekt mit einem Projektleiter gestartet, der den Fortschritt regelmaessig an Gremien berichtet. Entwicklungsbudgets werden freigegeben, Herstellungs- und Marketingkosten abgeschaetzt, Prototypen und Vorserienmodelle entstehen, etc.. Die Entscheidung, ob ein Projekt schlussendlich die Marktreife erreicht, ist ein komplexes Unterfangen, die Basis ist aber immer eine betriebswirtschftliche Profitabilitaetsrechnung, die mit verschiedenen Marktszenarien spielt. Jede Branche hat hier so ihre spezifischen Eigenheiten, aber im Grunde laeuft es in allen grossen (erfolgreichen) Firmen, die industrielle Produkte herstellen, mehr oder weniger so ab.
Stundenlang koennte ich Sie diesbezueglich mit Details langweilen!
Ein Produkt, welches sich hierbei nicht als profitabel erweist, z.B., weil die Herstellkosten zu hoch waeren, und mag es noch so "gut", innovativ und sinnvoll sein, erreicht gar nicht erst den Markt. Und das ist, so hart die Entscheidung manchmal auch sein mag, auch gut so, denn nur profitable Produkte sicher die Zukunft eines Unternehmens und schaffen die Basis fuer weiteres Wachstum (es schadet in diesem Zusammenhang nicht, wenn man sich ab und zu vor Augen haelt, dass das schnoede kapitalistische Gewinnstreben letztlich die Basis fuer unseren Wohlstandsstaat ist). Herstellungskosten koennen also ein Produkt bestenfalls vor oder nach der Geburt toeten, nach unten hin koennen sie aber nie niedrig genug sein. Kein Kaufmann kaeme etwa auf die Idee, den Verkaufspreis fuer ein Produkt zu senken, nur, weil die Herstellkosten gesenkt werden konnten (es sei denn, er will einen Verdraengungswettbewerb starten).
In der Industrie ist diese Vorgehensweise gang und gaebe. Das heisst aber noch lange nicht, dass es nicht auch einige Produkte gibt, die ohne den ganzen Sermon am Markt erfolgreich sind. Es gibt einfach Dinge, die sind so gut, dass auch das schlechteste Marketing oder der insuffizienteste Herstellprozess den Erfolg nicht verhindern koennen. Die findet man dann 50 jahre spaeter in der Hall of Fame dieser raren Pflaenzchen, dem Manufactum-Katalog.
Auch garantiert dies alles noch keinen Erfolg am Markt. Dieser ist, wie auch der Kunde, bekanntlich ein unergruendliches Mysterium. Man kann daher trotz allem Aufwand immer mal wieder dramatisch danebenliegen.
Es lohnt aber immer, nach einem klaren Prozess vorzugehen und zu rechnen. Da das alle machen (die, die es nicht machen, verschwinden irgendwann wieder), ist der Wettbewerbsvorteil hin; immerhin verhindert die systematische Vorgehensweise, dass ein Produkt viel zu billig verkauft wird (einige Maerkte sind voll davon, kein Scherz). Und es hilft auch, die knappen Ressourcen auf die richtigen Produkte zu verteilen.
Leider sagt mir meine Erfahrung auch, dass es im Sinne der Gewinnmaximierung eher lohnt, Geld fuer schlauen Marketing auszugeben als fuer eine Optimierung des Herstellprozesses. Beispiele hierfuer waeren z.B.
Danone (dramatisch ueberteuerter Joghurt, der zudem noch in die falsche Richtung dreht)
Gilette (suendhaft teure Rasierklingen, Ausnutzen eines Quasi-Monopols)
Lexus (verkauft Toyota-Teile zum Luxuspreis)
Microsoft (siehe Gilette)
...
All diese Firmen verfuegen uebrigens neben einem exzellenten Marketing auch ueber ganz hervorragende Produktionsprozesse. Lexus, pardon, Toyota, ist geradezu Weltklasse im kontinuierlichen Verbessern von Herstellprozessen. Gute Unternehmen optimieren staendig an beiden Enden der Kette. Getreu dem alten Kaufmannsmotto: Die Basis des Gewinns wird im Einkauf gelegt!