Viele Hersteller geben die Daemmerungszahl als wichtigen Kennwert ihrer Produkte mit an. Er berechnet sich aus der Quadratwurzel aus D*m, wo D der Objektivdurchmesser (in mm) ist und M die Vergroesserung. Dieser Wert soll irgendwie die Leistung des Fernglases waehrend der Daemmerungsphase wiedergeben. Wir haben hier schon einige Male diskutiert, dass eine allzu unbekuemmerte Interpretation dieser Formel problematisch ist, und ich moechte hier ein paar Argumente dazu zusammenfassen. Eigentlich ist der Sachverhalt in meinem Buch diskutiert, aber nicht jeder hat die Gelegenheit, dort alle Details nachzulesen, daher hier eine etwas ueberarbeitete Zusammenstellung.
1) In welchen Situationen soll die Daemmerungszahl gelten? Laut Koehler/Leinhos ist der Gueltigkeitsbereich auf Umgebungsleuchtdichten zwischen 0.003 cd/qm und 0.3 cd/qm beschraenkt (die SI-Einheit ist candela pro Quadratmeter).
2) Wie ist die Formel bestimmt worden? Testpersonen wurden Tafeln mit Landoltringen praesentiert, die dann ausgelesen werden mussten. Hier geht es also um die Wahrnehmung von Feindetail, so wie im Sehtest beim Augenoptiker.
3) Warum ist dieser Testaufbau praxisfern? In der Daemmerungsphase hat der Beobachter es normalerweise nicht mit Hochkontrastobjekten zu tun. Viele nachtaktive Tiere sind gut getarnt und bleiben dem Auge selbst dann verborgen, wenn sie sich laengst jenseits der theoretischen Aufloesungsschwelle befinden: Daemmerungssehen ist kontrastbegrenzt, nicht aufloesungsbegrenzt.
4) Gibt es Alternativen zur Bewertung der Fernglasleistung in der Daemmerung? Ja, die Bestimmung der Sichtungsschwelle, etwa die Kontrastschwelle: Das ist der minimale Kontrast, den ein Objekt aufweisen muss, um wahrgenommen werden zu koennen.
Max Berek (Ernst Leitz AG) hat in den 1940er Jahren aus Versuchsreihen eine entsprechende Wahrnehmungsformel hergeleitet, die ich hier nicht im Detail besprechen kann. Wer interessiert ist, findet seine Originalarbeit im Anhang.
Inzwischen habe ich die Tabellen aus Bereks Arbeit numerisch interpoliert und in Naeherungsformeln gegossen, die leicht in Computerprogrammen verwendet werden koennen. Auch gibt es jetzt leistungsfaehige Universalformeln zur Pupillenoeffnung, die sowohl Alter des Beobachters als auch den scheinbaren Sehwinkel des Instruments beruecksichtigen, etwa
Hier. In Kombination mit Bereks Formel lassen sich die Kontrastschwellen-Nutzleistungen (dabei handelt es sich um den Faktor in der Kontrastschwelle, den man mit dem Instrument gewinnt, im Vergleich zum unbewaffneten Auge) unterschiedlicher Fernglaeser bei allen Beleuchtungsverhaeltnissen spielend leicht bestimmen.
Erstes Beispiel: Die Abbildung "ksn_20_30.pdf" im Anhang. Sie zeigt die Resultate fuer diverse Fernglaeser und einem jungen Beobachter (etwa 20-30 Jahre). Der scheinbare Sehwinkel aller Fernglaeser wurde auf 60 Grad festgelegt, die Transmission auf 90%, Streulicht vernachlaessigt. Berechnet wurden die Kontrastschwellen eines Objekts mit einer scheinbaren Winkelausdehnung von einer Bogenminute.
Man beachte, dass links die Umgebungsleuchtdichte gering ist (Nachtbeobachtung), rechts hoch (Tagesbeobachtung) und in der Mitte (zwischen den beiden senkrechten Linien) befindet sich die Phase, in der die Daemmerungszahl gilt. Diese ergibt fuer ein 8x56 den Wert 21.2, fuer ein 12x42 den etwas hoeheren Wert von 22.4. Beide Fernglaeser sind in der Abbildung farbig hervorgehoben: Waehrend beinahe der gesamten Daemmerungsphase ist das 8x56 (rot) weit leistungsstaerker als das 12x42 (blau), nur am Uebergang zur Tagesbeobachtung erreichen beide Fernglaeser aehnliche Werte.
Wer oft in der Daemmerung beobachtet, wird diese Resultate bestaetigen: Das 8x56 liefert hier deutlich mehr als ein 12x42, und die Kontrastschwellen-Nutzleistung scheint daher praxistauglichere Ergebnisse zu liefern als die Daemmerungszahl.
Man beachte auch, wie schnell ein Kompaktfernglas (8x20) bereits vor Erreichen der Daemmerung einbricht.
Es gibt noch eine zweite Abbildung, in der die Situation eines aelteren Beobachters (etwa zwischen 50 und 60 Jahren) gezeigt ist, ksn_50_60.pdf: Hier ist klar, dass dieser Beobachter aus dem 8x56 (rot) nicht mehr die volle Leistung herausholen kann, weil sich seine Augenpupillen nicht mehr auf 7mm oeffnen. Das 7x50 Fernglas scheint verschwunden - tatsaechlich liegt seine Kurve exakt auf der des 7x42. Das 10x56 (blau) koennte hier als ideales Ansitzglas einspringen. Uebrigens stellt in diesem Fall auch das 8x42 ein geeignetes Daemmerungsglas dar, das ja stets oberhalb der Leistung eines 7x42 bleibt.
Fazit: Die Daemmerungszahl ist von begrenzter Aussagekraft, es existieren weit praxistauglichere Modelle zu den Wahrnehmungsschwellen, deren Anwendung dann aber ein entsprechendes technisches Verstaendnis voraussetzt. Hersteller, die ihren Kunden die Leistungsdaten ihrer Fernglaeser nahelegen wollen, koennten dazu auf Bereks Modell zurueckgreifen, anstatt die eher nutzlose Daemmerungszahl anzugeben.
Viele Gruesse,
Holger