Auch die besten Argumente werden nicht verhindern, daß es in dieser Frage immer zwei konträre Lager geben wird: Eines, das gute Randschärfe für entbehrlich hält, und eines, dem gute Randschärfe wichtig ist. Ich will daher niemandem, der keinen Wert auf gute Randschärfe legt, vorschreiben, daß er gute Randschärfe für ein wichtiges Entscheidungskriterium hält.
ABER: Das Argument, das Auge sehe nur in der Mitte (sogar in einem wirklich winzigen Winkelbereich von weniger als 1/4°) wirklich richtig scharf, weshalb es überflüssig sei, daß ein Fernglas eine gute Randschärfe hat, ist Unsinn. Denn das Auge wandert ständig umher (seine Sprünge werden als Sakkaden bezeichnet), tastet also größere Objekte sequentiell ab, und das Gehirn setzt die vielen Einzelbilder in einem Kurzzeitspeicher so zusammen, daß wir den Eindruck haben, alles um uns herum scharf zu sehen. Auch wenn wir durch ein Fernglas schauen, steht das Auge nicht still. Natürlich kommt es beim Umherspringern des Auges darauf an, was wir beobachten: Beobachten wir z.B. ein Reh, das nur z.B. 5% der Bildbreite im Fernglas einnimmt, wird das Auge speziell in diesem engen Bereich der Bildmitte umherspringen und die Umgebung eher beiläufig aufnehmen. Betrachten wir jedoch eine ganzes Rudel Rehe, die über einen großen Teil des Bildfeldes oder gar das ganze Bildfeld verteilt sind, so wird das Auge auch im ganzen Bildfeld umherspringen. Ich will den sehen, der behauptet, daß er dann mit dem gesamten Fernglas und durch Kopfbewegung von Reh zu Reh springt, um ständig das momentan beobachtete (ständig wechselnde) Objekt genau in der Bildfeldmitte zu halten. Wer behauptet, sein Fernglas immer auf das Beobachtungsobjekt zu zentrieren und daher immer nur gute Schärfe in der Bildmitte zu benötigen, lügt sich selbst was vor. Interessanterweise kommt aber gerade meist von diesen Leuten die Aussage, ein größeres Sehfeld sei (auch bei niedriger Randschärfe) wichtiger als gute Randschärfe. Ich frage mich da zwangsläufig, warum das große Sehfeld so wichtig sein soll, wenn es unscharf ist und man sowieso niemals dort beobachtet (mal abgesehen von den seltenen Fällen, in denen man dort aufgrund von Bewegung merkt, daß z.B. ein Reh oder ein anderes interessantes Objekt neu am Bildfeldrand auftaucht).
Wenn ich ohne Fernglas z.B. auf einem Aussichtsturm stehe, bewege ich nicht wie ein Vogel (z.B. eine Henne) ständig ruckartig den ganzen Kopf, um mir das Landscharfspanorama anzusehen. Vielmehr bewegen sich in einem weiten Winkelbereich vorwiegend nur die Augen, um das Panorame abzutasten, und erst, wenn ich einen größeren Bereich auf diese Weise betrachtet habe, bewege ich den Kopf (oder den ganzen Körper), um in eine andere Richtung zu schauen und dann wieder erst bevorzugt durch Augenbewegung das nächste Segment des Panoramas im Detail abzuscannen. Nicht anders gehe ich mit dem Fernglas vor. Stehe ich z.B. oben auf einem Kirchturm und schaue hinuter auf die Straßen und Häuser, springe ich nicht mit dem ganzen Fernglas von Auto zu Auto, von Dach zu Dach, von Springbrunnen zu Reklametafel usw.. sondern überlasse das meinen Augen. Darum will ich einen möglichst großen Bereich im Fernglas scharf sehen. Selbst wenn erst ganz weit draußen, vielleicht auf den letzten 5% bis 10% des Sehwinkels die Unschärfe recht deutlich wird, so empfinde ich das als irgendwie störend, so, als ob ich als Brillenträger Wassertropfen auf dem Brillenglas hätte, die mir die Sicht verschleiern.
Ich betone allerdings, daß ich es allen, die keinen Wert auf gute Randschärfe legen, durchaus nicht übelnehme, sondern gern gönne, mit (hühnerartig) ruckartigen Kopf- und Fernglasbewegungen von Hausdach zu Hausdach, von Auto zu Auto usw. zu springen und sich darüber zu freuen, daß Ihnen das Fernglas trotz ausschließlicher Nutzung der Bildmitte einen großen Sehwinkel bietet, auf dessen Randbereich sie nie schauen wollen.
Walter E. Schön