Daß bei einer verbesserten Randschärfe die Bildmitte weniger scharf sein müsse, ist zwar plausibel, aber nicht zwingend und nicht relavant, sofern die Mittenschärfe immer noch deutlich besser als die Sehschärfe des Auges ist.
Man kann durchaus die Randschärfe (durch erhöhten Korrektionsaufwand, z.B. durch zusätzliche Bildfeldebnungslinsen) signifikant steigern, ohne daß deswegen die Mittenschärfe leidet. Und selbst wenn sie sich dabei etwas vermindern sollte, heißt das noch lange nicht, daß das Auge diesen Schärfeverlust feststellen kann! Nach meiner Erfahrung mit allen hochwertigen Ferngläsern ist bei diesen die Mittenschärfe so gut, daß selbst bei einer 2- bis 3fachen Nachvergrößerung durch einen sog. „Booster“ (z.B. den von Swarovski oder das 3x12-Mono von Zeiss) das Auflösungsvermögen des Auges die Grenze setzt und nicht mangelnde Auflösung der Fernglas-Booster-Kombination.
Ich besitze selbst u.a. das Nikon 8x32 HG-L und das Nikon 10x42 HG-L, und beide zeigen im Zentrum im Vergleich z.B. zu den entsprechenden Ferngläsern von Leica, Zeiss, Swarovski und Canon IS keine Schwäche in der Schärfe (Auflösung).
Der Eindruck, ein randscharfes Fernglas sei im Bildzentrum weniger scharf, dürfte vielmehr darauf zurückzuführen sein, daß man bei einem randunscharfen Fernglas die Schärfe in der Mitte aus besonders gut empfindet, weil sie sich so deutlich vom unscharfen Bildrand abhebt! Es ist also nichts weiter als eine Täuschung, der man erliegt. Ein bekanntes Beispiel aus einem anderen Bereich der Sinnestäuschungen zeigt die Wirkungsweise besonders deutlich: Man stelle drei Wasserschalen nebeneinander auf, links mit kalten Wasser, in der Mitte mit lauwarmem Wasser und rechts mit heißem Wasser (nicht zu heiß, also unter ca. 40°, um sich nicht zu verbrühen). Dann tauche man die linke Hand in die Schale mit kaltem Wasser und die rechte in die Schale mit heißem Wasser. Nach ca. 10 Sekunden ziehe man beide Hände aus der jeweiligen Schale und tauche beide in die mittlere Schale mit lauwarmem Wasser: Die linke Hand wird dieses Wasser als warm, die rechte dagegen als kalt empfinden, obwohl doch beide Hände im gleichen Wasser eingetaucht sind.
Ebenso empfindet das Auge die Mittenschärfe eines am Rand uscharfen Fernglases als besser als die gleich gute Mittenschärfe eines anderen Fernglases mit guter Randschärfe. Denn im ersten Falle „springt die gute Schärfe ins Auge“, im zweiten Falle dagegen nicht, obwohl sie nicht schlechter ist.
Walter E. Schön