Sehr geehrter Herr Müllers,
wenn ich Sie richtig verstanden habe, meinen Sie, mit einem höher geöffneten Glas am Tag mehr Details erkennen zu können, als mit einem gleichwertigen kleinen, und halten dies für generell gültig. Taschengläser mit geringerem Öffnungsverhältnis bilden Ihrer Meinung nach auch dann schlechter ab, wenn die Pupille nicht weiter als 2,5mm geöffnet ist, sie zeigen grundsätzlich weniger Kontrast und Auflösung, Herr Fritzen fügt noch schlechtere Farbwiedergabe hinzu. Vielleicht sollte man letzteres mal beiseite lassen, weil es schwer zu untersuchen ist und Streulicht und Reflexe, die großen Gläsern auch nicht wenig zu schaffen machen, erstmal ausklammern. Beschränken wir uns also zunächst auf Auflösung und Kontrast bei normaler Tagbeobachtung. Dann halte ich Ihre Behauptungen für falsch und für messbar zu widerlegen – das wäre die physikalische Seite der Kontroverse. Was die psychologische Seite angeht, später mehr.
Was entgegnen Sie zunächst auf die physikalischen Argumente, die Ihre Vorstellungen von schlechterem Kontrast und weniger Auflösung geringer geöffneter Ferngläser in Bedrängnis bringen müssen?
Die aus einem kleineren Öffnungsverhältnis und einem geringeren Sehwinkel sich ergebenden besseren Korrekturmöglichkeiten für Abbildungsfehler, Stichworte entspanntere Optik, weniger gekrümmte Linsen, sind schon woanders zur Sprache gekommen, dieser Punkt müsste doch unstrittig sein. Hier käme es höchstens darauf an, inwieweit die Hersteller sich dies zunutze machten. Sie müssten behaupten sie täten es nicht, sondern würden im Gegenteil die schwierigere Korrektur großer Gläser besser beherrschen. Das könnte vor Jahrzehnten vielleicht sogar der Fall gewesen sein, als Taschengläser eher ein Schattendasein führten. Man verwendete für sie einfachere Vergütungen und widmete der optischen Auslegung womöglich insgesamt etwas weniger Sorgfalt und Feinschliff, das Haupaugenmerk lag auf den Großen. Bei modernen Kleingläsern gilt das aber nicht mehr, warum sollte ein Hersteller ihre optisch einfachere Korrektur auch nicht ausreizen? Täte es dann ein anderer, wäre der Wettbewerbsnachteil beinahe wörtlich offensichtlich.
Dass Abblenden in einem bestimmten Bereich die Abbildungsqualität zunächst steigert, um sie dann später wieder zu vermindern, dürfte ebenso unstrittig sein. Wenn Sie Fotoobjektive besitzen, kennen Sie die Blendenwerte, bis zu denen Abblenden ihre Bildqualität verbessert, etwa Blende 8, und ab denen sie sich dann deutlich verschlechtert, etwa Blende 16. Ein 8 oder 10fach vergrößerndes Fernglas mit 42mm Öffnung dürfte ca. Blende 4 aufweisen, eines mit 32mm Blende 5, bei 25mm etwa Blende 6. Damit haben kleine Gläser auch hier eher einen Vorteil. Im Archiv findet sich übrigens ein Beitrag von Gunnar, der seinerzeit mit aufwendig selbst gedrehten Blenden die Bildqualität höherer bis mittlerer APs vergleichend untersucht hat. Das Ergebnis war wie zu erwarten, Abblenden steigert die Bildqualität selbst noch bei einem Victory 8x42, wenn es auf 32mm gebracht wird (und sie wäre wohl noch etwas weiter angestiegen, wenn es auf 25mm abgeblendet worden wäre).
Der demgegenüber behauptete Vorteil höherer Öffnungen bei Hochkontrastmotiven ist mir unverständlich. Höher geöffnete Systeme neigen in solchen Situationen, z.B. bei extremem Gegenlicht, leichter zu Überstrahlungen, es kann sogar zu Doppelkonturen an kontraststarken Kanten kommen, was die Bildschärfe deutlich mindert und ebenfalls durch Abblenden reduziert oder verhindert werden kann. Herrn Fritzens posierender Vogel auf der Mauer auf der Lauer dürfte in einem kleinen guten Glas seine Konturen eher besser als schlechter zur Geltung kommen lassen, solange Fremdlicht außen vor bleibt.
Im übrigen nutzt das Auge bei hellem Tageslicht eine größere AP gar nicht aus, ihr Licht beleuchtet mit allem, was außerhalb der kleineren Pupillenöffnung ankommt nur die Regenbogenhaut. Bei z.B. blauäugigen oder sonst wie recht helläugigen Menschen vermindert das zusätzliche äußere Licht der größeren AP ihren Kontrasteindruck sogar etwas, weil eine helle pigmentärmere Iris weniger lichtdicht ist als die dunkeläugiger Menschen und das durchdringende Licht die Netzhaut diffus erhellt.
Hinzu kommt noch, dass mit größerer AP eines Glases und kleiner Pupillenöffnung am Tag die Gefahr steigt, unbemerkt leicht dezentriert durchs Glas zu schauen, was fast alle optischen Abbildungsfehler des Fernglases verstärkt. Bei einem kleinen Glas bemerken Sie eine Dezentrierung sofort, weil es dann leicht zu Abschattungen kommt.
Bliebe als Nachteil die Streulichtproblematik, die aber übertrieben wird, was vermutlich historische Gründe hat. Man hört oft, die kleinen Gläser böten kaum Platz für Blenden, und der Anteil reflektierender Fassungsinnenflächen sei relativ größer, so dass es dadurch vermehrt zu Reflexionen und Streulicht käme. Ich halte diese beiden Gründe für stark überbetont, erstens sind auch die Fassungen großer Gläser möglichst knapp um die Strahlenkegel herumgebaut, so das dort genauso relativer Platzmangel herrscht, und zweitens ändert sich der Anteil von annähernd zylindrischen Fassungsinnenflächen mit höherem Durchmesser relativ gesehen ziemlich wenig, weil Pi eine Konstante ist. Für weit bedeutender halte ich kleine Unachtsamkeiten bei älteren Kompaktglasdesigns. Mit den bis vor etwa 10 Jahren oft etwas einfacheren Vergütungen hatte man vernachlässigt, dass weniger gekrümmte Linsen tendenziell eine besonders gute Vergütung brauchen, je mehr ihre Oberfläche geebnet ist, damit es nicht zu planspiegelartigen Reflexen kommt. Moderne Kompaktgläser sind inzwischen höchstwertig vergütet, in den meisten Situationen spielen Kontrastbeeinträchtigungen deshalb keine viel größere Rolle als bei großen Gläsern. (Ich finde eher, dass es an der Zeit wäre, insgesamt und bei allen Modellgrößen die Reflexe stärker mit verbesserter Innenschwärzung zu bekämpfen)
Summa summarum spricht also physikalisch und physiologisch vieles eher für die Kleinen, solange ihnen das Licht reicht. Sie, Herr Müllers und ebenso Herr Fritzen, müssten hingegen umgekehrt das alles komplett anders auffassen und erklären, ich finde, da haben sie sich viel vorgenommen. Aber wenn Sie mögen, erläutern Sie es mal. Und zwar ohne über die Hintertür Dinge ins Spiel zu bringen, die nichts direkt mit der Bildgüte zu tun haben und die wir deshalb außen vor lassen wollen, also Handunruhe, Einblick, Sehfeld, Störlicht, oder Dämmerung.
Soweit die Theorie. Zu den praxisorientierten Vorschlägen, mit handfesten Abstandsmessungen der Bildqualität messend auf die Spur zu kommen, haben Sie sich nicht geäußert. Sie haben mir aber schon früher an anderer Stelle bei der Frage nach Vergrößerung und Detailerkennbarkeit entgegengehalten, Messtafeln zu beobachten habe nichts oder zu wenig mit realem Beobachten zu tun. Sie berufen sich stattdessen auf lange „Seherfahrung“ und bewerten diese anscheinend höher als irgendwelche Messungen, oder als die Erfahrungen anderer Leute, wie z.B. von Herrn Gross und seinem Neffen. (Bei mir machen Sie aber diesbezüglich ausdrücklich eine Ausnahme, das finde ich nett.) Weiterhin wollen Sie mir und anderen zwar Besitzerstolz oder zufriedenes Zurechtkommen mit den Kleinen zubilligen, soweit wäre alles ganz in Ordnung, aber von Auflösung und Kontrast wie bei den Großen am Tag dürfen wir Ihrer Erfahrung nach „bei weitem nicht“ reden. Sie erheben damit also einen gewissen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Solange Sie keine Bedingungen nennen, unter denen Sie Ihre Anspruch zu ändern bereit wären – meine Bedingungen zu messen hatte ich genannt – sind Sie unanfechtbar. Dennoch glaube ich nach wie vor kaum, dass Sie persönlich bei Vergleichsmessungen z.B. an Landoltringen mit einem höher geöffneten Glas tagsüber reproduzierbar und signifikant mehr erkennen würden. Aber mit bloßen Worten beweisen kann ich es natürlich nicht.
Da ich nun ebenso wie Sie einen gewissen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben möchte, ergibt sich wie schon bei der Frage zur „förderlichen“ handgehaltenen Vergrößerung ein Konflikt, in dem ich mir nun erlaube psychologisch zu werden und noch etwas zum heiklen Thema Selbstüberschätzung zu sagen, die Sie verständlicherweise weit von sich weisen. Ich wollte mit diesem Eindruck weder Herrn Fritzen noch Sie persönlich oder Ihrer beider Erfahrung diskreditieren und das ganze eigentlich auf sich beruhen lassen. Aber da mein Vergleich mit dem älteren Dialyt Ihnen fragwürdig erschien, weil Sie mir offenbar nicht zutrauten, einfache Fehler wie Dejustage oder innere Beläge zu erkennen, will ich meinen Eindruck erläutern.
Das tückische an Selbstüberschätzung ist, dass man sie selber nicht bemerkt. Und dennoch ist sie weit verbreitet. Genauer gesagt, jeder unterliegt ihr, Sie ebenso wie ich. Messbar, also wissenschaftlich nachweisbar. Wie das geht? Sie machen irgendwo auf der Welt irgendeinen beliebigen aber nicht zu einfachen Test mit einer genügenden Anzahl von Leuten, denen Sie ihr jeweiliges Ergebnis aber vorenthalten. Die Ergebnisse sollten die typische Gaußverteilung zeigen. Dann fragen Sie jeden, mit welchem persönlichen Ergebnis er rechnet. Und dann vergleichen Sie die einzelnen Erwartungswerte mit den jeweiligen Messwerten. Resultat: beinahe jeder schätzt sein Abschneiden deutlich zu gut ein. Dabei gilt die zu positive Selbsteinschätzung nicht nur für Fähigkeiten, sondern auch für Eigenschaften (pikanterweise auch für die Einschätzung der eigenen Attraktivität). Nicht selten fällt die Selbstüberschätzung verschieden hoch aus, tendenziell halten sich schlechtere Kandidaten für noch etwas „mehr“ besser als gute Kandidaten, auch scheinen weibliche Testpersonen ein wenig mehr von sich überzeugt zu sein, aber das alles sollte man um des lieben Friedens Willen vielleicht nicht unbedingt genau weiter verfolgen.
Jedenfalls macht diese bei jedem von uns eingebaute allgemeine Neigung zur Selbstüberschätzung oder Geringerschätzung anderer biologisch durchaus Sinn, sie sorgt einerseits für eine gewisse beruhigende Selbstzufriedenheit und wirkt andererseits natürlich auch ermutigend. Aber bei realen Vergleichen mit anderen kann es so leider hin und wieder zu Unstimmigkeiten kommen, die dann keiner zugeben mag. Ein großer Teil des alltäglichen gesellschaftlichen Geschehens, ob beruflich, privat, im öffentlichen Leben, in der Wirtschaft, an der Börse, usw. wird bestimmt von diesem Gefühl der Menschen, ihren Mitmenschen ein bisschen voraus zu sein, es etwas besser zu wissen, besser zu können und anderen vielleicht sagen zu sollen, wie es besser geht. Auch wenn das in etlichen Fällen durchaus berechtigt sein wird, sollte sich doch jeder daran erinnern, bei der Bewertung eigener Fähigkeiten lieber immer ein deutliches Quantum abzuziehen, wenn er eine realistische Selbsteinschätzung, einen realistischen Vergleich zu anderen anstrebt. Das ist schmerzhaft, aber sich selbstkritisch sehen zu können hat oft Vorteile, es kann überzogene Erwartungen und Enttäuschungen verhindern. In unserem Fall eine mutmaßliche Enttäuschung darüber, bei einer realen Vergleichsmessung in Sachen Bildqualität keine nennenswerten Unterschiede feststellen zu können und sich dann genötigt zu fühlen, nicht überprüfbare Erfahrungswerte zu bemühen. Man kann sich vieles zu leicht einbilden (und nicht wenige Menschen verdienen damit und im Wissen um dieses Bedürfnis bei anderen gutes Geld).
Über das schwierige Wechselspiel zwischen den Sinnen und wieweit man ihnen trauen kann, und dem interpretierenden Verstand hatte ich mich schon an anderer Stelle ausgelassen. Das alles macht Auseinandersetzungen leider nicht nur sachlich, sondern auch psychologisch schwierig. Ich hoffe jedenfalls, Sie nehmen mir meine kritischen psychologischen Unterstellungen nicht übel und halten mich nicht für überheblich. Vielleicht habe ich in Sachen Selbsteinschätzung bei mir selbst zu wenig abgezogen und diesen Beitrag viel zu lang werden lassen. Vielleicht kenne ich auch zu wenige aktuelle große Spitzenmodelle gut genug. Vielleicht versuchen aber auch Sie als bekennender Kompaktglaskritiker einen messbaren Vergleich zwischen anständigen und nur behelfsmäßigen Fernglasöffnungen zu finden und revidieren Ihre negativen Eindrücke. Auch wenn nicht, sollte es mich freuen, wenn Sie gegen die Kleinen nicht nur pauschal persönliche Erfahrung ins Feld führten (noch dazu auf einem Feld wie Stern- oder Vogelbeobachtung wo für Kompaktgläser eh wenig zu holen ist), sondern einen guten Test auf Bildqualtität vorschlagen könnten, der jedem zeigen würde, was Sie unter mehr Kontrast und Auflösung großer Gläser verstehen. Herrn Fritzens einfacher Test war wohl nicht nur für mich kaum überzeugend, er klang höchstens so.
3-mal bearbeitet. Zuletzt am 10.08.08 22:15.