1. Jeder hat im Fernsehen schon Aufnahmen gesehen, bei denen die Kamera mit einem (extremen) Weitwinkelobjektiv über eine Gebäudefassade schwenkte, z.B. in Nachrichtensendungen, wenn zu Beginn oder im Abspann einer Nachricht aus der Politik die Kamera z.B. von weit unten nach oben über das Gebäude einer Parteizentrale bis zu deren Signet oben auf dem Dach oder über das Bundestagsgebäude schwenkt. Es fällt dann sofort auf, wie sich Gebäudeteile im Randbereich des Bildes schnell und stark verformen, z.B. mit zunächst parallelen vertikalen Kanten bei horizontal gerichteter Kamera zu stark „stürzenden Linien" (= nach oben konvergierenden „Senkrechten“), wenn die Kamera schräg nach oben gerichtet ist. Dabei ändert sich nicht nur die Schräglage der Kanten, sondern auch die Größe von Flächen, z.B. eines Fensters oder einer Wandfläche zwischen zwei Säulen. Das ist an sich nichts Besonderes und fällt den meisten Betrachtern nur bei extremen Weitwinkelaufnahmen auf.
Wenn wir nun durch ein Fernglas schauen und dabei das Fernglas schwenken, so entsteht der Globuseffekt bei einem nicht oder nur sehr wenig kissenförmig verzeichnenden Fernglas deswegen, weil diese oben beschriebene Form- und Flächengrößenänderung nicht so erfolgt, wie sie bei dem scheinbar verkürzten Beobachtungsabstand sein müßte, sondern so, wie sie sich (ohne Vergrößerung durch das Fernglas) aus der tatsächlichen Entfernung zum Motiv ergibt.
Immer, wenn das Gehirn visuelle (oder auch andere) Signale empfängt, die mit den gespeicherten (erlernten) Erfahrungswerten nicht in Übereinstimmung zu bringen sind, versucht das Gehirn, seine Annahmen über die Gegebenheiten so zu verändern, daß alles wieder zusammenpaßt (plausibel wird). Das führt dann u.a. zu den zahlreichen wohlbekannten optischen Täuschungen: Das Gehirn nimmt dann z.B. an, daß von zwei tatsächlich gleich großen Figuren diejenige größer als die andere ist, die aufgrund von konvergierenden Linien im Hintergrund (die aussehen wie Eisenbahnschienen) weiter entfernt zu stehen scheint. Oder es nimmt an, daß in Wirklichkeit gleich helle Flächen verschieden hell sind, weil aufgrund eines Schattens auf einer der beiden Flächen diese dunkler erscheinen müßte, wenn sie tatsächlich gleich hell wäre.
Genauso reagiert das Gehirn auch, wenn die Form- und Größenänderungen im Randbereich des Bildes nicht so verlaufen, wie sie aus der vermeintlich verkürzten Entfernung aussehen müßten. Da das Gehirn gespeichert hat, wie die Form- und Größenänderungen auf einem rotierenden Zylinder im Randbereich aussehen, und weil diese den im geschwenkten Fernglas beobachteten Veränderungen fast zum Verwechseln ähnlich sind, „unterstellt“ es (zur Erzielung einer plausiblen Erklärung), daß sich die beobachtete Szenerie bei einem Horizontalschwenk auf einem Zylinder mit vertikaler Achse abrollt: Man sieht in diesem Falle die nahe dem Zylinderrand liegenden Objekte in der Breite gestaucht, dann allmählich breiter werdend, bis sie auf dem rotierenden Zylinder in der Mitte liegen, und von da an wieder erst langsam und dann immer schneller schmaler werdend. Je weiter am Rand, egal ob links oder rechts, desto auffälliger ist die Form- und Größenänderung.
Deshalb ist es tatsächlich so, wie Sie vermuten: Je größer das (scheinbare) Sehfeld, desto auffälliger wird der Globuseffekt.
Aus dem gleichen Grund muß zur Kompensation des Globuseffekts die kissenförmige Verzeichnung so verlaufen, daß sie zum Rand hin nicht nur stetig, sondern dabei auch deutlich zunehmend (= immer schneller) größer wird. Die Verzeichnungskurve in einem Diagramm mit dem Abstand von der Bildmitte (opt. Achse) auf der x-Achse und der Verzeichnung auf der y-Achse muß also in grober Näherung ähnlich gekrümmt verlaufen wie eine Parabel y = xˆ2, also mit wachsendem Abstand vom Nullpunkt immer steiler werdend.
Bei einem Fernglas mit nur 40° SSW wird es möglicherweise egal sein, ob es kissenförmig verzeichnet oder nicht, ohne daß selbst dafür sensiblen Beobachtern ein Globuseffekt auffällt. Bei 50° SSW wird er vermutlich schon bemerkt, und bei 60° und mehr kann es manchem schon schwindelig werden. Der von mir im vorigen Beitrag genannte Erfahrungswert „8% bis 12%“ ist für einen SSW von ca. 60° erforderlich, um sensiblen Beobachtern das Schwindelgefühl zu nehmen. Wenn ich einmal mehr Zeit habe, werde ich das genau durchrechnen. Momentan fehlt mir dafür die Zeit.
2. Die Randschärfe sollte (bei gleicher Verzeichnung) keine Rolle für unterschiedliche Wahrnehmung des Globuseffekts spielen. Denn die Form- und Größenänderungen werden an so groben Strukturen erkannt, die selbst bei einem sehr schlechten Fernglas gut genug zu erkennen sind. Man braucht dabei nicht die Mörtelfugen zwischen Ziegelsteinen oder gar noch feinere Strukturdetails zu erkennen, um zu bemerken, wie beim Schwenken des Fernglases ein von einem Bildrand über die Mitte zum anderen Bildrand wandernder Kamin auf dem Dach eines Hauses seine Breite verändert, zumal die dafür sensiblen Beobachter das Schwindelgefühl auch dann bemerken, wenn Sie (z.B. beim Verfolgen eines fliegenden Vogels) unverwandt diesen Vogel im Bereich der Bildmitte fixieren und daher unabhängig von der Randschärfe des Fernglases den Randbereich gar nicht scharf sehen können.
3. Daß man sich an den Globuseffekt bis zu einem gewissen, aber individuell unterschiedlichen Grad gewöhnen kann, ist sehr wahrscheinlich, da der Mensch sich an sehr vieles andere auch gewöhnen kann (das ist übrigens eine seiner wichtigen Überlebensstrategien). Sicher wird die Gewöhnung nicht bei allen Beobachtern dazu führen, daß der Globuseffekt gar nicht mehr stört - aber er wird mit der Zeit durch Gewöhnung weniger stark stören. Wer sehr sensibel dafür ist, wir ihn möglicherweise nie akzeptieren; wer weniger sensibel dafür ist, wird allmählich lernen, damit zu leben und ihn vielleicht eines Tages gar nicht mehr bemerken.
Es gibt viele andere physiologische Reize, bei denen es ebenso ist. Nehmen Sie z.B. den Straßenlärm in einer Wohnung in einem der unteren Stockwerke an einer vielbefahrenen Straße. Manche Menschen bemerken den Lärm nach ein paar Jahren der Gewöhnung kaum noch und können eventuell sogar bei offenem Fenster dabei schlafen. Andere halten es irgendwann nicht mehr aus und ziehen in eine andere Wohnung um. Aus eigener Erfahrung: Ich war in meiner Schulzeit (damals lebte ich in einer ruhigen Kleinstadt) einmal in der Ferien bei einem Onkel in München in der Görresstraße genau gegenüber einer Straßenbahnhaltestelle. Damals gab es noch einen die Fahrscheine verkaufenden und entwertenden Schaffner (Kondukteur), der immer dann an einer Leine zog, die ein lautes Glockengebimmel auslöste, wenn alle ein- und aussteigenden Fahrgäste ein- bzw. ausgestiegen waren und der Fahrer weiterfahren konnte. Ich hatte die erste Woche keine Nacht vor 1 Uhr und morgens ab 5 Uhr durchschlafen können, sondern wachte alle 15 Minuten auf, wenn es wieder draußen bimmelte. In der zweiten Woche fiel mir das Einschlafen einige Bimmelzyklen lang schwer, aber wenn ich dann eingeschlafen war, bemerkte ich das Störgeräusch nicht mehr. Ich hatte mich daran gewöhnt.
Bei der Heftigkeit, mit der Sie, Herr Müllers, in ihrem früheren Beitrag gegen den Globuseffekt wetterten, kann ich mir allerdings kaum vorstellen, daß Sie zu denen gehören, die sich daran gewöhnen können. Sollten Sie sich 2010 oder später ein neues Fernglas kaufen und bisher Swarovski favorisieren, sollten Sie sich allmählich darauf einstellen (auch eine Art von Gewöhnung), dann auf Leica oder Zeiss umzusteigen.
Walter E. Schön