Volle Zustimmung zur geschichtlichen Darstellung, wie sie Rolf Riekher in seinem sehr lesenswerten Buch „Fernrohre und ihre Meister“ auf Seite 246 dokumentiert hat. Allerdings stehen dort zwei falsche Sätze speziell zu dem hier diskutierten Thema:
1. „Es ist ein Verdienst A. Sonnefelds, gezeigt zu haben, daß die Erfüllung der Tangentenbedingung bei Fernrohren mit Weitwinkelokularen zu einer falschen Perspektive führt.“
2. Beim Überblicken eines Geländes mit einem Weitwinkelfernglas, bei dem die Tangentenbedingung erfüllt ist, tritt eine unangenehme Bewegung des Vordergrundes gegenüber dem Hintergrund in Erscheinung.”
Zu 1: Nicht die Perspektive ist hier falsch (sondern im Gegenteil beim kissenförmig verzeichnenden Fernglas, das die Winkelbedingung statt der Tangentenbedingung erfüllt), sondern die beim Schwenken auftretenden Größenänderungen im Randbereich weichen von denen ab, die der Beobachter aufgrund des von ihm wahrgenommenen und somit seiner Erwartung zugrundegelegten kürzeren Motiventfernung sehen müßte. Wäre die Perspektive falsch, müßte das auch bei stationärem Fernglas zu sehen sein. Wie man sich leicht überzeugen kann, sieht man im im Gegensatz zu Riekhers/Sonnefelds Formulierung im nicht oder kaum verzeichnenden Fernglas die Perspektive korrekt und bei stark verzeichnenden Fernglas deutlich verfälscht.
Zu 2: Es tritt keine (weder eine angenehme, noch eine unangenehme) Bewegung des Vordergrundes gegenüber dem Hintergrund ein. Wäre dies der Fall, so müßte es möglich sein, mit Hilfe des Schwenkens (ohne Standortänderungen!) Hintergrundobjekte oder Teile davon zu sehen, die vom Standort des Betrachters aus hinter Vordergrundobjekten versteckt sind. Richtig müßte es heißen, daß aufgrund der anders als erwartet verlaufenden Größenänderungen im Randbereich des Bildes nur der (täuschende!) Eindruck entsteht, als ob Voder- und Hintergrund sich relativ zueinander parallel zur Schwenkrichtung bewegten.
Da Herr Riekher ein anerkannter und hochkarätiger Fachmann ist, bin ich sicher, daß er die falschen Sätzen nicht deshalb so schrieb, weil er den wahren Sachverhalt nicht verstanden hat, sondern weil er hier zu oberflächlich formuliert hatte, vielleicht im Interesse möglichst kurzer Sätze.
Jetzt zu meinen Einwänden.
Die Forderung nach einer den Globuseffekt unterdrückenden kissenförmigen Verzeichnung kam aus der militärischen Anwendung (was auch ich schon weiter oben geschrieben hatte), weil da das Schwenken des Fernglases während der Beobachtung fast die Regel, zumindest aber ungleich häufiger der Fall ist als beim zivilen Einsatz. Der über längere Zeit bei Zeiss ausgefochtene Streit um die „richtige“ (besser: „praxistauglichere“) Lösung zeigt, daß es gute Gründe für beide Auffassungen gibt - je nachdem, wie und wofür man das Fernglas einsetzt und wie sensibel der Benutzer für Globuseffekt einerseits oder Verzeichnung andererseits ist. Da wir hier im Forum nicht über mititärisch eingesetzte Ferngläser diskutieren, bleibt trotz der bei Zeiss damals getroffenen und bis heute beibehaltenen Entscheidung die Frage offen und kann nur für den individuellen Fall (des einzelnen Beobachters) so oder so entschieden werden. Deshalb hatte ich weiter oben gegen den Absolutheitsanspruch einer sich ein allgemeingültiges Urteil anmaßenden Einzelperson prostestiert und die Berechtigung beider konträrer Ansichten betont.
Daß Swarowski die Einführung der neuen EL-Ferngläser deshalb auf 2010 verschoben hat, weil es die (angeblich) weitgehend behobene Verzeichnung wieder einführen will, halte ich für eine durch nichts belegte Spekulation. Ob die neuen EL-Modelle tatsächlich kaum verzeichnen, weiß ich nicht mit Sicherheit, da ich leider während der Photokina keine Zeit fand, mir die neuen Ferngläser anzusehen. Swarowski sagte, soweit ich mich erinnern kann, in der damaligen Presseinformation nichts zu diesem Thema. Da es aber von mehreren Personen, die durch diese neuen EL-Modelle schauen konnten, so berichtet wird, gehe ich auch davon aus. Aber welche Indizien gibt es denn, daß eine Abkehr von der annähernd verzeichnungsfreien Konstruktion der Grund für die Terminverschiebung ist? Ich sehe keine. Ich glaube eher, daß es bei der Vorbereitung auf die weitgehend maschinelle Serienfertigung zu große Probleme gegeben hat, die in der weitgehend manuellen Einzelfertigung der Prototypen beherrschten Toleranzanforderungen zu erfüllen. Eventuell halte ich es auch für möglich (aber das ist auch wieder Spekulation), daß Patentverletzungen drohten, die durch Umkonstruktionen umgangen werden müssen.
Welche Konsequenzen hinsichtlich des Globuseffekts eine weitgehende Behebung der Verzeichnung hat, war doch allen Konstrukteuren und Marketingexperten schon vorher klar. Und da eine Entscheidung zugunsten eines annähernd verzeichnungsfreien Bildes auf Kosten eines manche Beobachter störenden Globuseffekts einen Bruch mit der bisherigen Praxis darstellte, muß das mit Sicherheit schon im Vorfeld bei Swarovski ausdiskutiert und entschieden worden sein. Den Entscheidern bei Swarovski zu unterstellen, sie würden erst jetzt bemerkt haben, was sie da „angerichtet“ haben, hieße doch, sie für dumm zu halten. Daß da jemand wegen des Globuseffekts „die Notbremse gezogen hat“, halte ich für ein Märchen.
Leider funktioniert der angegebene Link nicht bei mir; ich erhalte die Fehlermeldung „Not found“. Ich weiß also nicht, was die dort angeblich zu findende Zeichnung zeigt. Aber ich widerspreche dem aus dieser Zeichnung und den dort dargestellten Zusammenhängen offenbar abgeleiteten Satz (Zitat):
„So gesehen ist es eigentlich sinnlos, von "verzeichnungsfrei" zu sprechen, solange man nicht dazu sagt, auf welches Bezugssystem man sich bezieht. Kein System ist dem anderen grundsaetzlich ueberlegen, man muss halt den Anwendungsbereich definieren und entsprechend korrigieren.“
Was „verzeichnungsfrei“ bei der Abbildung durch ein Objektiv bedeutet, ist klar definiert. Ein Objektiv bildet dann (annähernd) verzeichnungsfrei ab, wenn das Bild eines ebenen oder räumlichen Gegenstandes sich so im Raum anordnen läßt, daß die geradlinien Verbindungen aller Bildpunkte mit den jeweils zugehörigen Objektpunkten einander (annähernd) in EINEM Punkt schneiden, das Bild also den Gesetzen der Zentralperspektive genügt. Das Fernglas ist zwar kein Objektiv, sondern setzt sich praktisch aus zwei so hintereinandergeschalteten Objektiven (deren zweites als Okular bezeichnet wird) zusammen, daß das zweite Objektiv (= Okular) das reelle Bild des ersten Objektivs erneut, aber nunmehr virtuell abbildet. Die Definition muß deshalb hier auf das virtuelle Bild, das der Beobachter sieht, angewandt werden.
[Ich mußte „sich so im Raum anordnen läßt“ statt des von vielen Lesern sicher erwarteten „so aussieht“ schreiben, damit die Definition auch dann stimmt, wenn z.B. aufgrund von Strahlumlenkungen durch ebene Spiegel im Strahlengang, wie etwa bei einer Spiegelreflexkamera, das Bild an einer anderen Stelle liegt als es läge, wenn keine Umlenkung erfolgte.]
Die Abhängigkeit von unterschiedlich wählbaren Bezugssystemen gilt für Projektionen, wie sie z.B. in der Kartografie zur ebenen Darstellung der gewölbten Erdoberfläche benutzt werden, nicht aber für den Begriff der Verzeichnungsfreiheit. Man muß bei diesen Projektionen statt von „verzeichnungsfrei“ je nach Bezugssystem z.B. von „längentreu“, „flächentreu“ oder „winkeltreu“ sprechen. Das hat aber alles mit der Abbildung des Wirklichkeit durch das Fernglas nichts mehr zu tun.
Walter E. Schön