Weil Sie alt genug sind, um die früher vielbeachteten Objektivtests der amerikanischen Fotozeitschriften „Popular Photography“ und „Modern Photography“ noch zu kennen, werden Sie sich vielleicht erinnern, daß diese beiden tatsächlich die Verzeichnung in der Bildecke gemessen und in den Testergebnissen angegeben hatten. Ich hatte etwa um 1975 herum einmal auf einer Photokina mit dem damaligen Testredakteur einer dieser beiden Zeitschriften (Jason Schneider) über dieses Thema eine heiße Diskussion, die aber leider zu keiner Besserung führte, weil ihm wohl das Eingeständnis, seit Jahren falsch gemessen und beurteilt zu haben, peinlich gewesen wäre. Ursprünglich war die Messung und Angabe des Verzeichnungswerts für die Bildecke nicht ganz verkehrt, denn bei den damaligen Objektiven – es gab damals weder Superweitwinkel noch Zooms, bei denen die Verzeichnungskurve meistens auf- und abwärts verläuft – verlief die Verzeichnungskurve fast immer ziemlich stetig nur aufwärts (Teleobjektive) oder nur abwärts (Weiteinkelobjektive), so daß der Maximalwert tatsächlich in den Bildecken auftrat.
Zahlreiche Fotofirmen dagegen geben in technischen Daten den Maximalwert des Betrags (der bei negativen Verzeichnung eigentlich ein Minimalwert wäre) innerhalb des gesamten Bildhöhenbereichs an. Aber auch das ist unzureichend, weil, wie ich vorhin schon schrieb, nicht der Verzeichnungswert selbst, sondern sein Gradient (erste Ableitung, Steigung) für das Ausmaß der Durchbiegung verantwortlich ist. Deshalb geben seriöse Firmen, deren Fachleute die wahren Zusammenhänge kennen, in technischen Daten nicht einfach Prozentwerte, sondern Diagramme mit dem Verzeichnungsverlauf an (z.B. Zeiss, Rodenstock, Schneider-Kreuznach). Wünschenswert ist bei Fotoobjektiven ein möglichst flacher Verlauf, genauer: ein Verlauf mit möglichst geringer Kurvensteigung. Für Fotografen wäre daher eine Darstellung der 1. Ableitung viel nützlicher als die der herkömmlichen Verzeichnungskurven.
Bei Ferngläsern mit kissenförmiger Verzeichnung zur Unterdrückung des Globuseffekts müßte gemäß der Winkelbedingung die Verzeichnungskurve stetig und nach außen hin deutlich wachsend ansteigen. In diesem Falle würde die Angabe des Verzeichnungswertes am Sehfeldrand tatsächlich etwas darüber aussagen, ob oder wie stark der Globuseffekt unterdrückt oder reduziert wird. Insofern unterscheiden sich Fotoobjektive von Ferngläsern deutlich.
Übrigens wird die kissenförmige Verzeichnung zur Unterdrückung des Globuseffekts vor allem vom Okular erzeugt, nicht vom Objektiv. Hobbyastronomen kennen z.B. die berühmten Nagler-Okulare, die eine besonders starke kissenförmige Verzeichnung aufweisen. Hierbei geht es aber nicht um Unterdrückung des Globuseffekts, denn astronomisch beobachtet man nicht mit schwenkendem Fernrohr (das Schwenken dient dort im Gegenteil zur „Nachführung“ mit der scheinbaren Sternbewegung aufgrund der Erdrotation, um ein stillstehendes Bild zu bekommen). Vielmehr holen sich die Hersteller solcher stark verzeichnenden Okulare auf diese Weise (unterstützt durch unglaublich großzügiges „Aufrunden“) die Legitamation, in ihren Daten riesige scheinbare Sehwinkel angeben zu können, die viel größer sind, als man aufgrund der Feldblendendurchmesser und Okularbrennweiten errechnet.
Walter E. Schön