Hallo Gunnar!
Testreihen sind ohne Frage das einzige Mittel, um in vertretbarer Zeit genügend über die Eigenschaften eines Materials herauszubringen. Aber auch die aufwändigste Testreihe simuliert niemals vollkommen die reale Anwendung. Sie schreiben, Kunststoffe wurden getestet wie NICHTS zuvor. Aus der Perspektive eines Zeitgenossen und im Hinblick auf modernste technische Untersuchungsverfahren könnte man versucht sein, dem gern zuzustimmen. Aber aus der Perspektive der, nennen wir es, Realität, oder der Menschheitsgeschichte, ganz sicher nicht: mit Metallen und ihren Eigenschaften haben wir Menschen seit mindestens 10000 Jahren reale Erfahrungen, mit Kunststoffen seit gerade einmal 100 Jahren. Ich glaube, diesen fundamentalen zeitlichen Unterschied kann man auch durch umfangreiche Testreihen in Labors vorläufig nur sehr begrenzt ausgleichen. Und auch eine 7x24 Stunden Simulation lässt sich ganz sicher nicht 1:1 auf eine 2000x24 Stunden andauernde Realität hochrechnen.
Diesem grundsätzlichen Problem begegnet man nicht nur in der Technik, sondern überall, in der Entwicklungsbiologie müssen Modellorganismen mit kurzer Generationsdauer untersucht werden, weil man sonst nicht in vertretbarer Zeit zu Resultaten käme, bei Arzneimittelstudien, und nicht nur dort, versucht man zur zeitlichen Abkürzung einen höchst zweifelhaften statistischen Ausgleich durch große Stichproben usw. usw.. Solche Simulationen und Tests sind das beste was man tun kann, aber sie sind nun mal nicht die Realität, weshalb es immer wieder zu unerwarteten Überraschungen kommen kann. Ich will nicht dramatisieren oder agitieren, aber denken Sie an drastische Beispiele wie die Challenger oder die Columbia, Contergan usw. und Sie werden zugeben, dass auch bei menschenmöglich umfassendsten Materialtests unmöglich alles im voraus abgeklärt werden kann – noch mal eine Tragödie, Eschede. (Weshalb die Bahn vom Radreifenmaterialmix Metall/Gummi/Metall wieder zu bewährten reinen Vollmetallrädern zurückkehrte).
Sie meinen, wenn es Modifikationen an den Gläsern gäbe, werde man sie ja sehen. Möglicherweise. Aber da die Eigenschaften des Materials auch von Additiven und vom Procedere bei der Verarbeitung abhängen, müssen Sie Veränderungen am Material nicht notwendigerweise äußerlich erkennen. Wäre es so einfach, könnte man sich umgekehrt die ganzen aufwendigen Sicherheitstests auf mikroskopische Veränderungen von Materialien – Turbinenschaufelräder und was weiss ich noch alles - sparen und zu einfachen Prüfungen nach dem Augenschein übergehen. Sie verdächtigen wenn, dann die Dichtungen. Möglicherweise, aber da das Wechselspiel von Grenzflächen ziemlich komplex ausfallen kann und sich Kunststoff über die Zeit anders verhält als Metall, ist das Wechselspiel zwischen Gehäusematerial und Dichtungen eben auch verschieden.
Auch inerte Kunststoffe tauschen – tendenziell und sehr pauschal betrachtet – strukturell bedingt meist leichter Substanzen mit ihrer Umgebung aus als Metall. Dazu ein Beispiel aus eigener Erfahrung. In einem der Forschungslabors, in denen ich gearbeitet habe, gab es seit einem Jahr plötzlich zunehmend seltsame und unstabile Ergebnisse bei HPLC-Untersuchungen. Es wurden die teuersten Lösungsmittel und reinstes Analysewasser verschiedenster Hersteller getestet, nichts besserte sich. Schließlich wurden die Kunststoffleitungen von den Vorratsbehältern der Pufferlösungen zu den Hochdruckpumpen gegen metallene getauscht, auch das änderte nichts. Diese hochreinen Puffer müssen vor der Nutzung als Trägersubstrat entgast werden, um fatale Bläschenbildungen durch minimalen Luftgehalt unter den Hochdruckbedingungen zu verhindern. Zum Entgasen hängt man die Puffer an eine Vakuumpumpe, oder, was viel schneller geht, leitet ein paar Minuten lang Helium in den Puffer ein, das die Restluft aus der Lösung treibt und bei den später gefahrenen Analysedrucken anders als gelöste Umgebungsluft noch keine Bläschen bilden kann. Aus einer Mischung von Zweifel, Zufall und Hoffnungslosigkeit tauschten wir probehalber irgendwann auch noch das kleine Stück Polymerschlauch an der Helimgasflasche aus, das zum kurzen Einleiten in die Puffer verwendet wurde, gegen ein Metallröhrchen. Sie ahnen es. Im Laufe der Zeit hatten sich bei dem alternden Schlauchmaterial vermutlich durch die Sonne photochemische Prozesse abgespielt, die zu einer schleichenden Freisetzung von Reaktionsprodukten in den schwachen Heliumstrom geführt hatten und von dort in die Analysenpuffer gelangten. Je nach dem welche Entgasungsmethode verwendet worden war, wann und wo unter je nach Jahreszeit wechselnder Sonneneinstrahlung auf den transparenten Schlauch die Photolyse des Polymers abgelaufen war, vielleicht auch je nach Umgebungstemperatur, waren zufällig mehr oder weniger Reaktionsprodukte aus dem Kunststoff in die Trägermedien gelangt und hatten rätselhafterweise die Untersuchungsergebnisse torpediert.
Solche Dinge aus dem Bereich der Hochleistungsanalytik sind natürlich keinerlei Grund zum Alarmismus bei Fernglasgehäusen. Alarmismus entsteht hier im Forum nur, wenn Premiumanwender völlig überzogene Vorstellungen von ihren Premiumprodukten haben, jeden spekulativen Versuch einer realen Einschätzung als Bedrohung Ihres verzerrten Wunschbildes sehen, und dann die Dinge irgendwann auch noch persönlich zu nehmen beginnen. Das spiegelbildlich dazu passende Extrem ist die empörte und ebenso überzogene Verteufelung unwesentlicher Fehler bei „Postremus“-Produkten. Was auch immer das Ganze tiefenpsychologisch heißen mag.
Sollte es wirklich seltene und geringfügige Langzeitprobleme mit den Gehäusen bei Zeiss geben, wird man intern vernünftig damit umgehen. Aber auch was dies angeht, haben Premiumnutzer meiner Überzeugung nach manchmal unrealistische Vorstellungen. Als ich vor Jahren in den Ferien bei einem Autohersteller jobbte, kam es nach der Einführung einer Nobelkarosse manchmal zu ungeklärten Überlastungsproblemen im elektrischen Bordnetz. Die Ungeduld und die Premiumansprüche der Premiumkundschaft gaben keine Zeit zur Fehleranalyse, eine rasche Lösung musste her: klammheimlich stattete man solche Fahrzeuge an der Hinterachse mit einer zweiten Lichtmaschine aus, fertig. Wer würde den erhöhten Verbrauch schon nachprüfen? (Zum Glück beschäftigte sich W.E.S vermutlich schon damals mit Ferngläsern). Wie die Sache weiterging weiss ich nicht, wahrscheinlich hat man später den Fehler gefunden und längst abgestellt. Deshalb muß zum Glück nicht jedes Problem bei einem Premiumprodukt gleich zum Desaster für die ganze Firma werden, wie Sie schreiben. Ich glaube Probleme kommen immer wieder vor, alle können eben nur mit Wasser kochen. Und das ist auch gut so. Nur sorgen freie Werbung, offener Markt und fairer Wettbewerb paradoxerweise dafür, dass man nicht jeden laut daran erinnern darf, so dass man kleinere Probleme besser vertuscht. Bei großen klappt das eh nicht. Das größte Problem an kleinen Problemen wäre dann die irrationale, aber heikle Empfindlichkeit einiger Premiumkunden.
Ich lese Ihre Erfahrungsberichte gerne, Japan, Irland, Indien, Sie kommen weit herum. Ich würde auch gerne mal nicht nur Labor-Tiger sondern richtige zu Gesicht bekommen!
Grüsse in die Tropen!
5-mal bearbeitet. Zuletzt am 15.06.09 18:05.