Zitat:
„Wenn der optische Designer also die Wahl hat, dann kann er (bei einem vorgegebenen realen Sehfeld) mit dem verzeichnungsfreien Okular ein paar Grad beim scheinbaren Sehfeld einsparen, und das mag durchaus auch die Okularkonstruktion ein wenig vereinfachen.“
Ende des Zitats.
Richtig ist: Es ist einfacher, ein Okular mit einem großen scheinbaren Sehwinkel zu konstruieren, wenn man dabei deutliche kissenförmige Verzeichnung zuläßt, und ist es kann sehr schwierig werden, bei großem scheinbaren Sehwinkel ein annähernd verzeichnungsfreies virtuelles Bild zu erzielen. Jeder, der ein astronomisches Telekop und dazu weitwinkelige Okulare besitzt, weiß das. Gerade die für ihre riesigen scheinbaren Sehwinkel bekannten Nagler-Okulare weisen sehr hohe kissenförmige Verzeichnung auf, die Al Nagler gewiß beseitigt oder zumindest reduziert hätte, wenn das einfach gewesen wäre. Bei astronomischen Teleskopen schwenkt man nicht während des Beobachtens, so daß ein zu kompensierender „Globuseffekt“ (richtig: Zylindereffekt) nicht relevant ist und es somit keiner Kompensation zu Lasten unverzerrter Wiedergabe bedarf.
Verzeichnung bei Fotoobjektiven
Von Fotoobjektiven weiß man, daß die kurzbrennweitigen Weitwinkelobjektive zu tonnenförmiger Verzeichnung und die langbrennweitigen Teleobjektive zu kissenförmiger Verzeichnung tendieren. Um beide Verzeichnungen zu minimieren, ist ein erheblicher konstruktiver Aufwand nötig, den man nicht als „Vereinfachung“ bezeichnen kann, sondern der eine „Erschwernis“ ist.
Die tonnenförmige Verzeichnung von Weitwinkelobjektiven zu verstärken, ist dagegen relativ einfach. Man sehe sich nur mal die vielen billigen Weitwinkelkonverter für Digital-Kompaktkameras und Videokameras an, die alle ziemlich stark tonnenförmig verzeichnen, manchmal schon so stark, daß man fast schon einen „Fish-Eye-Effekt“ erzielt.
Ãœbertragung auf das Fernglas
1. Das Fernglas hat vorn ein
Objektiv, das aufgrund seines kleinen Bildwinkels um ca. 7° bis 8,5° (bei den hier besprochenen Modellen) und wegen des als Fokussierlinse benutzten optischen Gliedes (fast immer Einzellinse, evtl. verkitteter Zweilinser) mit negativer Brechkraft einem fotografischen Teleobjektiv vergleichbar ist (etwa 300 mm Brennweite bei Kleinbild). Folglich kann man beim Fernglasobjektiv mit einer sehr geringen kissenförmigen Verzeichnung rechnen, die in der Größenordnung um etwa 1% liegen dürfte, wenn man nicht mit gesteigertem Aufwand deutlich mehr oder weniger haben will. Die für ein Fernglas 8x42 bis 10x42 zur Teil- oder vollständigen Kompensation des „Globuseffekts“ erforderliche kissenförmige Verzeichnung ist aber ein Vielfaches davon, nämlich bei den in der Topklasse üblichen Sehfeldern ca. +7% (Teilkompensation) bis ca. +10% (Vollkompensation). Es würde einen riesigen Aufwand bedeuten und mir bei den für Ferngläser vertretbaren Gewichten sogar fast unmöglich erscheinen, diese hohe kissenförmige Verzeichnung mittels der Objektive aus wenigen und relativ dünnen Linsen zu realisieren.
Gegen eine solche Entscheidung spräche außerdem auch, daß eine objektvseitige Verzeichnung dieser Größenordnung um oder nahe 10% entsprechend größere Prismen-Durchlaßquerschnitte erforderte, die eine Volumen- und somit auch Gewichtszunahme von ca. 30% bedeutete (Volumen und Gewicht nehmen in der dritten Potenz zu)! Also kann man eine solche denkbare Maßnahme getrost als Unsinn verwerfen.
2. Das
Okular des Fernglases stellt optisch ein
verkehrt herum angeordnetes Weitwinkelobjektiv dar. „Verkehrt herum“ weil der beim Fotoobjektiv kurze Abstand zur Bildebene (in Strahlrichtung gesehen) hinter dem Objektiv liegt, beim Fernglasokular jedoch davor (= Abstand zur Zwischenbildebene). Und „Weitwinkelobjektiv“, weil der scheinbare Sehwinkel von ca. 60° bis 65° einem Kleinbildobjektiv von etwa 34 mm bis 37 mm Brennweite entspricht. Wie ich schon sagte, neigen Foto-Weitwinkelobjektive zu tonnenförmiger Verzeichnung, die meistens dem Betrag nach größer ist als die kissenförmige Verzeichnung von Teleobjektiven.
Nun möchte man zur Reduzierung des Globuseffekts aber eine kissenförmige Verzeichnung haben, was dem mit Optik nicht Vertrauten zunächst wie das Gegenteil vorkommt. Aber das ist ein Irrtum: Wenn man bei einem Objektiv die Lichteinfallsrichtung umkehrt, also z.B. ein Aufnahmeobjektiv verkehrt herum in einen Diaprojektor einsetzt und das Licht nicht wie bei der Kamera aus einer annähernd unendlichen Entfernung einfallen läßt, um es in einer Bildebene kurz hinter dem Objektiv (etwa im Abstand der Brennweite) aufzufangen, sondern ein in dieser Bildebene angebrauchtes Diapositiv von hinten durchleuchtet, das Licht von dieser „Rückseite“ ins Objektiv schickt und das vom Objektiv erzeugte Projektionsbild auf einer vergleichsweise sehr weit entfernten Leinwand auffängt, dann kehrt sich das Vorzeichen der Verzeichnung um: aus der kissenförmigen Verzeichnung des Weitwinkelobjektivs vor der Kamera wird eine dem Betrag nach geringfügig größere* kissenförmige Verzeichnung im Projektionsbild desselben Weitwinkelobjektivs.
* Die kissenförmige Verzeichnung der Projektion ist deshalb dem Betrag nach geringfügig größer als die tonnenförmige Verzeichnung der Aufnahme, weil man nicht aus z.B. -1,2% einfach +1,2% machen kann, sondern weil sich die Abbildungsmaßstäbe reziprok verhalten, also ...
-1,2% soviel bedeutet wie 100% - 1,2% = 98,8% = 0,988 und davon der Kehrwert ...
1/0,988 = 1,01214575 = 101,214575% = 100% + 1,214575% = +1,214575% Verzeichnung ergibt.
Der Strahlengang durch das Okular des Fernglases entspricht genau diesem Fall der Projektion. Zwar betrachtet man im Fernglas ein virtuelles Bild, das annähernd im Unendlichen liegt, aber ein virtuelles Bild im Unendlichen vor dem Fernglas hat exakt dieselbe Geometrie wie das gleichzeitig entstehende reelle Bild im Unendlichen hinter dem Fernglas. Also hat das Okular, das wir aus einem umgekehrt angeordneten Fotoobjektiv gedanklich gebastelt hatten, auf quasi ganz natürliche Weise im virtuellen Bild eine deutliche kissenförmige Verzeichnung. Diese kann man nun relativ einfach genauso vergrößern wie man mit Weitwinkelkonvertern von Digital-Kompaktkameras und Videokameras die tonnenförmige Verzeichnung dem Betrage nach (ungewollt) vergrößert.
Aber das Okular frei oder annähernd frei von Verzeichnung zu bekommen, ist ähnlich schwierig, wie einen Weitwinkelkonverter verzeichnungsfrei zu machen.
Die Mutmaßung, die Okukarkonstruktion vereinfache sich, wenn man Maßnahmen zur Reduzierung der kissenförmigen Verzeichnung des virtuellen Bildes ergreift, ist also falsch.
Walter E. Schön
PS.: Eigentlich wollte ich keine so langen Beiträge mehr schreiben. Aber während es sehr einfach ist, in einem einzigen Satz etwas Falsches zu schreiben, und es ebenso einfach wäre, diese Aussage als falsch zu bezeichnen, ist es schwierig, korrekt und verständlich zu begründen, warum eine solche Aussage falsch ist.