11. März 2020 16:45
|
Registrierungsdatum: 11 Jahre zuvor
Beiträge: 2.325
|
Nach ein wenig Spielerei mit dem neuen 7x35 Trinovid (das ich fortan als Retrovid bezeichnen werde) kann ich jetzt ein paar Eindrücke aus erster Hand schildern. Eine Anwendung unter dem Sternhimmel steht noch aus, auch ein kritischer Streulichttest in der Dämmerung, ansonsten konnte ich mir schon mein erstes Urteil bilden. Als Vergleich hatte ich ein altes 7x35 Trinovid aus den späten 1960er Jahren und ein Zeiss 7x42 Dialyt T*P von 1988.
Das Bild des Retrovid ist wirklich sehr hell und kontrastreich, dabei farbneutral. Mein Dialyt ist leicht gelblich (oder freundlicher: es zeigt einen leichten Warmton) und geringfügig weniger hell, das alte Trino ist etwas bräunlich und deutlich dunkler. Der Einblick des Retrovid ist sehr gut, wenn ich (ohne Brille) die Augenmuscheln auf die dritte Stufe (von Vieren) ausziehe. Dann finde ich den Einblick vergleichbar mit dem sehr guten Dialyt und etwas besser als beim alten Trino. Wenn die Augenmuscheln ganz drin sind, dann kann ich beim Retro auch mit Brille das Sehfeld bequem überblicken, im Gegensatz zum Trino und Dialyt. Das Sehfeld ist ein wenig kleiner, wirkt aber dennoch nicht eng, weil das Retrovid eine starke kissenförmige Verzeichnung hat. Ich meine, diese ist stärker als die des alten Trinovid, und deutlich stärker als beim Dialyt. Vielleicht ist das Retrovid eines der wenigen Ferngläser, die tatsächlich nach Winkelbedingung ausgelegt sind (werde ich an Mond und Sternen mal in Ruhe prüfen).
Farbsäume sind abseits der Sehfeldmitte recht deutlich, vermutlich nicht stärker als beim alten Trino, wegen des hohen Kontrasts aber doch auffälliger. Die Randschärfe des Retrovid ist nicht super, aber sichtbar besser als die des Trinovid und auch des Dialyt. Am Sternhimmel werde ich quantifizieren können, ob dieser Vorteil nur vom kleineren Sehfeld herrührt oder zusätzlich konstruktionsbedingt ist (mein EIndruck: Das Retrovid scheint am Rand etwas schärfer zu sein als das Trinovid bei gleichem Sehwinkel). Die Vignettierung des Retrovid ist stark: Bei schrägem Blick auf das Okular schrumpft die Randpupille auf weniger als die halbe Fläche zusammen, hier sind Trinovid und Dialyt weniger stark betroffen. In der Dämmerung dürfte das Retrovid zum Rand hin schon einen Helligkeitsabfall zeigen. Auch das werde ich beizeiten mal in freier Natur bei passendem Wetter testen. Der Nahpunkt des Retrovid liegt für meine Augen bei etwa 3m, wie der des Dialyt, während ich mit dem alten Trinovid auf knapp 4m komme.
Ein echtes Highlight ist die mechanische Ausführung: Alles wirkt hochwertig und funktioniert, wie man es sich wünschen würde. Die Fokussierung läuft weich, aber präzise und ohne Schleifen oder Spiel. Sie ist ausgesprochen langsam: Von 3m bis unendlich drehe ich 1 3/4 Umdrehungen, also etwa 630° - das ist nichts für jemanden, der es eilig hat. Die Dioptrieneinstellung ist etwas schwergängiger, wie auch die Knickbrücke. Die Augenmuscheln werden mit recht lautem Klicken über die einzelnen Raststufen herausgezogen - ein leises Heranschleichen an die Beute dürfte dabei zum Scheitern verurteilt sein :-)
Was ist das 7x35 Retrovid also?
Es ist definitiv kein Hochleistungsfernglas für professionelle Anwendungen, wie etwa das Swaro 8x32 SV oder (vermutlich) das Zeiss 8x32 FL. Dazu schwächelt es zu sehr in einzelnen Disziplinen, wie CA, langsame Fokussierung, moderate Randschärfe, weiter Nahpunkt, vielleicht auch an der etwas zu geringen Vergrößerung. Es macht dafür durchaus Spaß, wenn man sich die Zeit dafür nehmen kann, die Natur zu genießen. Es ist kompakt, liegt gut in der Hand, fokussiert langsam aber sehr feinfühlig und präzise, ist sehr hell und kontrastreich, und schwächelt auch nicht, wenn das Licht abnimmt. Die Beobachtung mit dem Retrovid ist vor allem stressfrei, weil es sehr ruhig gehalten werden kann und eine große Schärfentiefe hat. Es ist im Grunde für seine optische Leistung zu teuer - manche Gläser der gehobenen Mittelklasse aus dem Bereich der 1000 Euro Marke dürften ähnlich viel liefern. Allerdings gibt es momentan kein weiteres 7x35 Fernglas, das etwas taugt. Zudem handelt es sich um ein Instrument von Leica, und die gute Mechanik wird dem damit verbundenen Anspruch auch gerecht. Leute kaufen sich eine Leica M, um das Fotografieren zu zelebrieren, obwohl es für weniger Geld professionellere Kameras gibt. In diesem Sinne muss man selber entscheiden, ob all das seinen Preis wert ist. Abgesehen von dieser Preisfrage halte ich das Retrovid jedenfalls für gut gelungen.
Viele Grüße,
Holger