Wenn Sie die Hausfassade mit einer Kamera so fotografieren, dass die opt. Achse rechtwinklig zur Fassade steht und dann die Sensor- oder Filmebene parallel zur Fassade verläuft, werden gleich große Fenster überall gleich groß abgebildet. Das ergibt sich automatisch (also ohne Tricksen oder sonstigen Mehraufwand) nach den Regeln der Zentralperspektive. Das Auge hat aber keine ebene Sensorfläche, sondern eine kugelig gewölbte, und das Gehirn erzeugt daraus bei beidäugigem Sehen eine
dreidimensionale Wahrnehmung, die Ihnen ebenfalls vermittelt, dass alle diese Fenster trotz unterschiedlicher (wie mit dem Bandmaß von der Pupille zum jeweiligen Fenster gemessenen) Entfernung auch wieder gleich groß sind, obwohl das im gewölbten Netzhautbild nicht der Fall ist. Ein außermittiges Fenster wird erst dann auf einem Sensor kleiner als das mittige abgebildet, wenn Sie ein Bild mit einer (nunmehr schräg) auf dieses außermittige Fenster ausgerichteten Kamera mit ebenem Sensor machen, wobei dann wegen der Nicht-Parallelität von Sensorfläche und Fassade alle Fenster verzerrt statt rechteckig erscheinen. Das Gehirn arbeitet aber nicht wie die Kamera mit ebenem Sender, sondern vermittelt Ihnen beidäugig einen räumlichen Eindruck, der völlig anders ist.
Betrachten Sie ein extrem hohes Gebäude, z.B. mit 20 Stockwerken, so nehmen Sie einerseits durchaus wahr, dass Sie die weit entfernten Fenster in der obersten Stockwerken „kleiner“ sehen, wissen aber auch, dass diese sehr viel weiter entfernt sind, sodass das Gehirn keinem Konflikt ausgesetzt ist. Würden Sie dieses Hochhaus mit einem Superweitwinkel-Shiftobjektiv total entzerrt mit zur Fassade parallelem Sensor fotografieren, also ohne „stürzende Linien“, dann wären die Fenster aller Stockwerke im Bild auch wieder gleich groß. Aber bei Betrachtung des so entstandenen Bildes aus üblichem Betrachtungsabstand (z.B. DIN-A4-Bild aus 30 cm Entfernung) würden Ihnen das Bild unnatürlich erscheinen (weshalb Fotografen in solchen Fällen gern mit ein wenig „Restperspektive“ arbeiten, also mit unvollständiger Entzerrung). Erst wenn Sie den Betrachtungsabstand so stark vermindern, dass der Sehwinkel dem der Kamera bei der Aufnahme entspricht, also vielleicht nur aus 6 cm Abstand, bei dem Sie leider nicht mehr richtig scharf sehen, dann würde wieder ein natürlicher Bildeindruck entstehen, weil Sie die Fenster in den obersten Stockwerken wieder unter demselben sehr steilem Winkel nach oben sehen, wie wenn Sie so nah vor dem Haus stünden, wie die Kamera bei der Aufnahme stand. Die Sache ist nicht ganz trivial, aber alles ist trotzdem schlicht mit den Gesetzen der Zentralperspektive unter Berücksichtigung der Bildebenen-Orientierung (parallel oder nicht parallel zur Fassade) ohne jegliches Tricksen erklärbar.
Der Begriff „orthoskopisch“ oder „verzeichnungsfrei“ ist hier ebenso wie beim Fernglas auf ein
ebenes Bild (beim Fernglas ist es virtuell) bezogen, das gemäß den Gesetzen der Zentralperspektive erzeugt wird, und kann darum nicht auf das Netzhautbild im Auge angewandt werden.
Es gibt keine Diskrepanz, die das Gehirn „durcheinander“ bringt. Wenn das Auge ein von der Kamera mit ebenem Sensor aufgenommenes Bild so betrachtet, dass die Pupille zur Bildebene genauso ausgerichtet ist, wie es das Objektiv zur Sensorebene war (also Blickrichtung rechtwinklig zur Bildmitte wie die optische Achse des Objektivs zur Sensorfläche) und wenn außerdem der Abstand der Pupille vom Bild sich zur Bildgröße (z.B. Breite, Höhe oder Diagonale) genauso verhält die die Bildweite des Kameraobjektivs [= Brennweite mal (1 + m) mit m = Abbildungsmaßstab] zur Sensorgröße (Breite, Höhe oder Diagonale wie zuvor), dann entsteht für das Auge und das Gehirn wieder derselbe Eindruck wie bei unmittelbarer Betrachtung des von der Kamera aufgenommenen Gegenstandes (hier der Hausfassade).
1-mal bearbeitet. Zuletzt am 17.01.24 17:40.